Bewerbungen und andere verpasste Chancen III – Was tun?

„Was tun?“ fragt Daniel Rapoport im dritten und letzten Teil seiner Serie zum Quantifizierungswahn.


Well. Well, well, well. Niederschmetternde Worte. Es klingt wenig ermutigend. Solange der Mensch fortfährt, der Mensch zu sein, den wir kennen, scheint aus den obigen Zeilen zwingend zu folgern, solange wird sich nichts an der peinigenden und trostlosen Situation der Bewerbung ändern lassen; ja, steht sogar zu befürchten, dass die Situation sich noch verschlimmern wird: Immer mehr Menschen bevölkern den Planeten, während immer weniger künftig noch in produzierenden und wertschöpfenden Prozessen benötigt werden. Also wird der Druck, die Tendenz zur zur Quantifizierung der Qualität, in Zukunft noch anwachsen.

Therapien für’s Messfieber?

Realistisch besehen ist das Meßfieber eine Erkrankung des Geistes, die jedoch — wie jedweder Irrsinn — eine materielle Grundlage hat. Solche Geisteskrankheiten gehen nicht einfach weg; sie zu besiegen muss zunächst überhaupt ein Leidensdruck herrschen (zu dessen Entstehung diese Zeilen beizutragen wünschen) und ein Bewusstsein des Siechseins überhaupt; sodann muss aus dem Leidensdruck ein Wille erwachsen, sich des Wahnsinns zu entschlagen; und danach geht es überhaupt erst los: In therapeutischen Serpentinen; mit Rückschlägen und Fehlgängen ist zu rechnen. Ankunftszeit und -ort bleiben ungewiss. Das sagt die Erfahrung und so wird es denn wohl auch gehen. Man rechne mit ungeheuren Wegeszeiten und verproviantisiere sich nicht zu knapp!

Immerhin will ich ein paar Hinweise geben. Kann sein, ich weise in die falsche Richtung; was weiss denn ich? Ich stelle mich nur auf die Zehenspitzen meines Verstandes; viel mehr kann ich nicht tun, nicht in solchen Aufsätzen. Es kommt aber (wie bei allen lebenskomplexen Problemen, wir entsinnen uns) weniger darauf an, die richtige Strategie zur Hand zu haben; es kömmt drauf an, einen Willen zum Problem zu entwickeln.

Kommen wir also, indem wir, was da an Problemen auf die Weide getrieben ward, nun wohlgemästet wieder zusammen rufen, an unsere Konklusio: Zuerst vielleicht dies, dass ich natürlich nicht; an keiner Stelle; nirgends dazu aufrief, das Bewerbungsproblem nicht in Angriff zu nehmen. Natürlich muss man entscheiden. Am Ende wirft man mir noch vor, ich würde eine Welt ohne Entscheidungen propagieren! So einen Blödsinn mag vertreten, wer will; ich bestehe natürlich, wie jeder Mensch von Sinnen, darauf, dass eine Entscheidung getroffen sein will; in Bewerbungsdingen, wie in Lebensdingen. Lebensphilosophien, die so lange als möglich im Konjunktiv verharren möchten, sind mir suspekt. Denen halte ich das alte Diktum entgegen, dass, auch wer im Konjunktiv lebt, doch letztlich im Indikativ sterben müsse. Dass, mit anderen Worten, durchaus Sachzwänge und Zeitnöte existieren; dass man entscheiden (und Fehler machen) muss; dass man letztlich nur im Indikativ wachsen und sich entfalten könne.

Kein Aber also wider das Entscheiden selbst. Anknüpft sich nur eben eine Reihe von Einschränkungen und Kritiken an der statthabenden Praxis: Erstens (und vielleicht einsichtigstens) den immensen Aufwand betreffend, den wir in diesen Dingen treiben. Wir haben gesehen, dass lebenskomplexe Probleme (eine Reihe von) Entscheidungssituationen markieren, für die es keine Möglichkeit gibt, Strategien zu entwickeln und zu testen. Also ist jede halbwegs vernünftige Strategie viabel. Daraus folgt: Man entprofessionalisiere diese Bereiche schleunig! Die Schaffung unnötigen Expertentums, wo es keinen Experten geben kann, hat überhaupt keinen Sinn; es lässt sich nicht nachweisen, welchen Aufwand man auch immer triebe, dass Professionalisierung und Standardisierung diese Entscheidungssituationen handhabbarer machen oder bei der Entscheidung selbst Vorteile bringen; im Gegenteil, der erhöhte Aufwand erzeugt seinerseits ganz unsinnige Probleme und Nöte; die verschleuderten Energien gehen ja nicht zu irgendeinem imaginären Fenster hinaus, sondern sie wirken in der Gesellschaft fort; sie erzeugen schlechtes Deutsch, sie verschwenden der Beteiligten Lebenszeit, sie veranlassen die freudlosesten und blödsinnigsten Wettbewerbe; kurz, sie bringen gewaltige Mengen Hohlheit in eine Gesellschaft, die ohnehin nicht eben reich mit Fundstellen für den Sinn des Daseins gesegnet ist.

Einfachere Lösungen des Bewerbungsproblems

Konkret, auf das Bewerbungsproblem gewandt: Es ist genauso gut, wie irgendwas, ein kurzes Gespräch mit dem Bewerber zu halten, halbe Stunde genügt. Er kann sich beispielsweise per Email oder Telephon anmelden; es reicht vollkommen, dass er seinen Wunsch, eingestellt zu werden, vorbringe und ein Gesprächstermin vereinbart wird. Dabei kann man beiläufig abverlangen, was man an Vorabinformation zu erhalten wünscht: Zeugnisse, tabellarischer Lebenslauf, Kontakt zu bisherigen Arbeitstellen; was immer man für die Bildung eines Vorurteils als sinnvoll erachtet. Den üblichen bewerbunsgdeutschen Rhabarber kann man sich komplett schenken. Der Rest ist Erfahrung, Menschenkenntnis, Bauch-Heuristik (die ja auch geübt sein will!); ich habe auch gute Erfahrung damit, ein oder zwei Kollegen hinzuzuziehen (möglichst jene, die vermutlich mit dem Bewerbling am meisten zu tun haben werden) und auch deren Rat einzuholen. And that’s it! Keine Anschreiben, keine Empfehlungsschreiben, keine blöden Standardfragen („Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?“), keine übertriebende Vereinheitlichung der Situation. Der Bewerbling darf sich geben, wie er ist (soweit es ihm die Aufregung gestattet); man begegnet einander, so gut es eben geht, im jeweilig „natürlichen“ Habit und bringt sich wechselseitig entgegen, was da Wertschätzung heisst. Im Übrigen lässt man den ekelhaft professionalisierten, uneigentlichen Umgang miteinander.

Das Ganze lässt sich verallgemeinern: Zu der Forderung, die Meßindustrie zu entprofessionalisieren (i.e. abzuschaffen, meinethalben peu a peu) und zu dem Rufe, zur Heuristik eigener Lebenserfahrungen zurück zu kehren; sie zu stärken und zu fördern. Denn wenn man ehrlich ist, bleibt diese Heuristik doch sowieso im Hintergrunde wirksam; wir akzeptieren ja gar keine Entscheidungen, die ihr streng zuwider laufen; das Ganze ist sowieso alles nur ein gewaltiges Aufblasen von Dingen, die wir längst wissen. Kein Mensch würde sich von einem Personaler einen Bewerbling „reindrücken“ lassen, von dem er selbst nicht auch einen halbwegs guten Eindruck hat; das ganze kocht sich am Ende immer wieder auf Menschenmaß ein; und könnte genauso gut auch in der Zwischenzeit auf diesem Niveau gehandhabt werden.

Qualitäten kennen statt messen

Man kann Qualitäten nicht messen. Die Messung wandelt sie unvermeidlich in eine Quantität um. Es gibt aber, bedeutet die Rede vom „Menschenmaß“, eine Lösung. Die zu illustrieren nehme der Leser nur seine eigenen Erinnerungen und Erfahrungen aus der Schule her: Er wird sich wohl seiner Einschätzungen der Mitschüler entsinnen. Also daran, wer von denen „es drauf hatte“; wer eine „Lusche“ war; welche kompensatorischen Qualitäten die Lusche vielleicht neben den schulischen Leistungen dennoch hatte und so weiter. Man kann getrost davon ausgehen, dass auch die Lehrer ganz gut über derlei im Bilde waren; und dass ferner beider Bilder — das der Lehrer und das der Schüler — nichtmal allzu stark auseinander klafften. Erstaunlich, diese Erinnerung, nicht wahr? Es herrschte in der Schule offenbar eine allgemeine Informiertheit über Qualitäten! Natürlich hat das auch was mit Leistungskontrollen und regelmässiger Beobachtung des Verhaltens in Bewährungssituationen zu tun. Gegen die (wie schon oft beteuert) kein Einwand. Aber — und das ist der Punkt — es stellt sich bereits im Miteinander; im gegenseitigen Beobachten, Vergleichen, Aufeinanderachthaben; kurz: Im Zubilligen des Besonderen und also der Würde jedes Einzelnen! — ein Wissen (wem „Wissen“ ein zu starkes Wort ist: ein Eindruck), ein Eindruck also über die Qualitäten der anderen her. Über die Lehrer, über die Mitschüler, über das Kollektiv als Ganzes und so fort. Die Möglichkeit dieser Kenntnis halte man im Herzen! Sie soll als Beweis dienen, dass Kenntnis möglich ist, ohne die Würde eines Menschen anzutasten. Qualitäten, folgt daraus, kann man zwar nicht messen, aber man kann sie kennen. Diese Kenntnis und die aus ihr abgeleitete Beurteilung jedoch, so wahr sie zweifelsohne ist, kann gleichwohl irren, oder besser gesagt, nur vorläufiger gültig sein, weil sie letztlich wenig darüber besagt, wie das Leben der Menschen (Lehrer, Mitschüler etc.) im Weiteren verlaufen wird…

(Gleiches gilt, dies nur mit grobem Pinsel ausgeführt, für die Qualität(en) von Wissenschaftlern. Die derzeitige Praxis erschwert es zusehends, von der Qualität seiner Mitwissenschaftler Kenntnis zu erhalten. Anonymes Peer-reviewing (ein Gutachterverfahren mit unbekannten Gutachtern), Mega-Tagungen mit Keynotes von Wissenschaftler-Stars, natürlich der Wettbewerb ums liebe Geld und Reputation, komplexe Metriken usw. — all das erschwert den kenntnisbildenden Umgang miteinander. Eine grundlegende Veränderung dieses Umgangs macht sich nötig, namentlich und zuvörderst der Publikations- und Gutachter— Praxis. Dies ist der wichtigste Ort, an dem Qualität eingeschätzt wird und Diskussion stattfinden könnte. An dieser Stelle fehlt das Analogon zum Klassenkollektiv. Würde man von der heutigen Publikationspraxis zu einem kollektiv fortgeschriebenen Wissens-Fundus, etwa nach dem Vorbild von Wikipedia wechseln, so würde man — ähnlich wie in der Schule — doch recht bald die Mitdiskutanden und Beiträger kennen und einschätzen lernen.)

Schluss

Ich hoffe, ich bin wirklich klar verstanden, dass unsere Entscheidungen zwar notwendig sind, aber selbst nichts Notwendiges bezeichnen. Das war mir sehr angelegen. Dass also wir keineswegs die objektiv vorhandenen Eigenschaften eines Bewerbers „gemessen“ haben, wenn wir uns für oder gegen ihn entscheiden. Dass wir in dieser Entscheidung lediglich unserem Hoffen einen gültigen Ausdruck verleihen und dass wir uns auch gewaltig geirrt haben können (ja immer mal irren müssen, um überhaupt in der Lage zu sein, lebenskomplexen Problemen zu begegnen). Dass, mit anderen Worten, weder Personaler noch Bewerbling wähnen, mit der Entscheidung etwas über eine objektiv messbare Eigenschaft des Bewerblings ausgesagt zu haben. Das Urteil selbst mag objektiv gelten, nicht aber gilt objektiv, was es auszudrücken scheint. Das ist wichtig. Es nimmt sich ein Bewerbling eine Ablehnung ja oft sehr zu Herzen.

Dabei ist von vornherein klar (wir schließen den Kreis), dass es immer Abgelehnte und Ausgeschlossene geben wird. In Deutschland sind es derzeit, wie eingangs erwähnt, ca. drei Millionen. Es wäre einfach eine verkehrte, auf den Kopf gestellte Welt, anzunehmen, dass mit diesen Leuten die weniger Begabten, die weniger Befähigten & Geeigneten der Gesellschaft heraus gesiebt wurden. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Die Gesellschaft hat (in ihrer jetzigen Form) von vornherein beschlossen, dass sie einen substantiellen Anteil ihrer Mitglieder aussortieren wird; wie man es auch anstellt, wird diese Auswahl immer willkürlich und, je mehr Menschen sie betrifft, desto ungerechter und gemeiner sein. Mag sein, es scheint den Personalern, dass sie nach objektiven Kriterien auswählen. Sicher, sie können ihre Richtlinien herbeten. Sie können Gründe weisen. Wie wir nun aber zur Genüge wissen, sind diese Gründe nur der Versuch, ihrem heillosen Raten den Anstrich eines seriösen Meßverfahrens zu geben. In Wirklichkeit wissen sie natürlich genauso wenig wie irgendwer; sie mussten nur eben entscheiden.

Es kehrt sich der Prozess dann nur in der Wahrnehmung um: Wenn das kumulierte Resultat aller Entscheidungen offenbar dahin lautet, dass drei Millionen draußen bleiben müssen, dann steht das natürlich als Fakt im Raume; dann müssen das wohl die Schlechten, die Unbegabten, die Untüchtigen sein; dann wendet das Heer der Abgewiesenen dieses Urteil gegen sich selbst; dann regrediert die Gesellschaft im Sinn und in der Mechanik einer selbsterfüllenden Prophezeiung; dann vollendet sich eigentlich nur, was im Formulieren des Bewerbungsschreibens schon seinen Ausgang nahm: Dass nämlich der Bewerbling sich selbst, seine Würde und seine — gesellschaftlich und selbst im Arbeitsprozess — doch so wichtigen Qualitäten ganz und gar verliert.

Ich halte das für einen tragischen Vorgang. Menschen, die unter ihren Möglichkeiten bleiben, sind immer tragische Gestalten. Gesellschaften, die solche Tragik befördern, wo nicht verstärken, sind grundlegend verbesserungsbedürftig. Und so sind wir denn, hergeleitet vielleicht bloß durch ein leichtes Ziehen; eine geheime Bangigkeit; durch ein minimales Unwohlsein, das eben das Abfassen von Bewerbungen immer schon begleitet hat, unversehens an eigenartig kühne, wo nicht gar umstürzlerische und halsbrecherische Gedanken gelangt, mit denen den liebgewonnenen Leser allein zu lassen ich mir an dieser fortgeschrittenen Stelle erlaube.

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Daniel Rapoport

Daniel H. Rapoport, geb. 1971, studierte Chemie an der TU Berlin und arbeitet seitdem als Wissenschaftler an Technologien zur Analyse und Vermehrung menschlicher und tierischer Zellen. Neben wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht D.H. Rapoport Essays und Glossen zu Politik, Philosophie und Kunst.

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