Europa braucht die Briten

In dieser Woche entscheiden die Briten, ob ihr Land die Europäische Union verlässt. Für den Fall des Brexits erwarten Ökonomen wirtschaftliche Anpassungsprobleme. Auch der Rest Europas sollte auf einen Verbleib des Königreichs hoffen. Gingen die Briten, dann würde der Gemeinschaft der entscheidende Reformmotor fehlen.


Die Briten sind in der Regel nüchterne und entspannte Zeitgenossen. Kaum etwas beschreibt diesen Zug des Nationalcharakters besser als die Anekdote einer Deutschen, deren Auto mitten im Londoner Feierabendverkehr den Geist aufgegeben hatte. Erst einmal passierte gar nichts, nach ein paar Minuten klopfte ein Herr freundlich an die Windschutzschreibe, um zu fragen: „Könnte es sein, dass sie ein kleines Problem haben?“ Was passiert wäre, wenn sich die Episode in Berlin oder Frankfurt abgespielt hätte, liegt auf der Hand: Lautes Hupen sowie hektische Versuche, den liegen gebliebenen Wagen zu umfahren.

Beim Thema Europa indes scheint den Insulanern die Gelassenheit abzugehen. Seit Monaten beherrscht kein Thema die Debatten so sehr, wie die Abstimmung über den Verbleib in der Europäischen Union am nächsten Donnerstag. In den Umfragen wechseln die Mehrheiten, und quer durch die Parteienlandschaft gehen Risse.

Risse quer durch Parteienlandschaft

Insbesondere die konservative Regierungspartei ist zerstritten. Während Premierminister David Cameron für eine Zukunft in Europa wirbt, macht sein innerparteilicher Rivale Boris Johnson, der frühere Londoner Bürgermeister, Stimmung für den Brexit. Oppositionsführer Jeremy Corbyn gilt als lauer Europa-Freund. Während seine Labour Party offiziell für die Allianz mit Brüssel eintritt, wird dem besonders linken Parteichef eine Abneigung gegen die wirtschaftspolitische Agenda der EU-Kommission nachgesagt. Klare Prognosen über den Ausgang des Referendums scheinen derzeit ähnlich schwer möglich wie zuverlässige Vorhersagen des chronisch wechselhaften Inselwetters. Erst recht nachdem ein feiger Mord an einer Abgeordneten der Labour Party die ohnehin schon überhitzte Diskussion zusätzlich aufgeheizt hat.

Neben Gelassenheit gelten auch Pragmatismus und eine Vorliebe fürs Merkantile als weitere ur-britische Eigenschaften. Und ginge es nur um Wirtschaftsfragen, die Mehrheit pro Europa müsste sicher sein. Fast die Hälfte des Außenhandels bestreitet Großbritannien mit der EU. Außerdem kommen dank der Arbeitnehmerfreizügigkeit viele der Fachkräfte vom Kontinent, auf die Unternehmen und Banken dringend angewiesen sind. Auch in Londons Hotel- und Gastronomiegewerbe findet man überwiegend osteuropäisches Personal. Und nicht zuletzt ist das weltoffene und wirtschaftsfreundliche Britannien beliebter Standort für die Europa-Zentralen fernöstlicher Unternehmen. Japanische und koreanische Automobilhersteller produzieren hier Fahrzeuge, die in Deutschland, Italien und Frankreich auf den Markt gebracht werden.

Briten durften sich Rosinen herauspicken

Einige Aspekte der Europäischen Union, die den Brexiteers Wahlkampfmunition liefern könnten, ziehen erst gar nicht. Die Zahlungen an Brüssel fallen – dank dem von Maggie Thatcher heraus verhandelten „Briten-Rabatt“ – vergleichsweise gering aus. Und der Europäischen Währungsunion sind die Insulaner ebenso fern geblieben wie dem Schengen-Abkommen, das die Grenzkontrollen regelt. Bei jeder Einreise ins Königreich müssen daher auch Deutsche und Franzosen ihren Pass oder Personalausweis vorzeigen, der dann von britischen Beamten höflich aber bestimmt begutachtet wird (ohne dass dies der dortigen Wirtschaft bisher nachhaltig geschadet hätte).

Doch die Briten sind auch ihren Traditionen verhaftet. Eher negativ auf den Ausgang des Referendums dürften sich die (immer noch nicht überwundenen) Phantomschmerzen auswirken, die viele Untertanen Ihrer Majestät wegen des Verlusts ihres einstigen Weltreichs empfinden. Auch wenn die Zeiten des Empires längst tempi passati sind: sich von Funktionären aus Brüssel, die aus britischer Sicht höchstens halbwegs demokratisch legitimiert sind, reinreden zu lassen, passt nicht zum Selbstbild. Zudem legen die Briten mehr als jede andere Nation in Europa Wert auf echte Demokratie und Fairness. Schließlich gilt die Magna Carta, mit der Adlige bereits im 13. Jahrhundert dem unbeliebten König Johann Ohneland grundlegende Rechte abtrotzten, als einer der ältesten Verfassungsvorläufer der Welt. Und wer einmal eine Fernsehdebatte auf BBC oder eine Befragung des Premierministers im Unterhaus erlebt hat, könnte schon auf die Idee kommen, die demokratische Tiefe der hiesigen Debattenkultur oder des Raumschiffs Brüssel zu hinterfragen.

Britische Nüchternheit vs. Europa-Pathos

Die britische Nüchternheit wiederum hat starke Resistenzen gegen das Übermaß an Schwärmerei und Pathos entstehen lassen, das zumindest in Deutschland fast jede europapolitische Sonntagsrede bis zur letzten Faser durchdringt und das alljährlich bei der Verleihung des Karlspreises sein Hochamt feiert. Dass in der Staatengemeinschaft längst nicht mehr alles schick und supi ist, fällt im Königreich eher auf, als bei den vielen Herzenseuropäern auf dem Kontinent. Wer will, dass das politische Europa eine dauerhaft gute Zukunft hat, sollte sich vielleicht an den Rat des fiktiven Lehrers John Keating aus dem „Der Club der toten Dichter“ erinnern und sich um eine neue Perspektive bemühen. Noch immer hat es sich bewährt, neben dem Herz auch die kühle Ratio zu Wort kommen zu lassen.

Ein Brexit wäre deshalb eine Lose-Lose-Situation: Ein großer Verlust für die Insel, aber mindestens ein ebenso so großer für den Rest der Gemeinschaft. Würde der EU-Ausstieg den Briten zunächst vor allem ökonomische Nachteile und neue Unabhängigkeitsbestrebungen im schottischen Landesteil bringen, so fürchtet man in Brüssel eine Rückkehr der Eurosklerose.

Brexit wäre Lose-Lose-Situation

In den vergangenen Jahrzehnten ist die Gemeinschaft auf 27 Nationen angewachsen. So unterschiedliche Staaten wie Griechenland und Deutschland, Rumänien und die Niederlande müssen gemeinsam wichtige Angelegenheiten klären. Alle Länder haben dabei eine Stimme. Dem Votum von Malta, das in etwa so viele Einwohner hat wie ein Berliner Bezirk, kommt dabei genauso viel Gewicht zu, wie dem deutschen. Zudem zeigte sich jüngst in wichtigen Fragen – wie der Finanz- oder der Migrationskrise -, dass zwischen den einzelnen Ländern erhebliche grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten bestehen, die sich alleine mit dem Scheckbuch nicht mehr lösen lassen.

Vom früheren EU-Kommissionspräsident Jaques Delors stammte das Mantra: „Europa ist wie ein Fahrrad. Wenn man es anhält fällt es um.“ Mittlerweile muss man aber davon ausgehen, dass dieses Fahrrad mindestens eine Kurskorrektur braucht, damit es nicht irgendwann gegen eine Wand fährt. Wenn selbst der Karlspreis-Europäer schlechthin, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, nun davor warnt, dass zu viel Europa Europa tötet,  dann scheinen die britischen Reformvorschläge tatsächlich in die richtige Richtung gegangen zu sein. So hat Cameron immer wieder gemahnt, Europa neu zu denken und auf wichtige Kernbereiche zu konzentrieren. „Reduce to the max“, sozusagen.

Es wäre fatal, wenn die Briten mit ihren demokratischen Traditionen, ihrer nüchternen Analyse und ihrem marktwirtschaftlichen Credo in einem solchen Denkprozess fehlen sollten. Wer sonst könnte derart glaubhaft, ein Gegenwicht gegen allzu viel Staatsgläubigkeit und Zentralismus bilden? Halten doch ausgerechnet die Briten den Grundsatz des französischen Staatsrechtlers Charles de Montesqieu, „Wenn es nicht notwendig ist ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen“ hoch. Frankreich und Deutschland sind innenpolitisch zuletzt den eher gegenteiligen Kurs gefahren. Mindestlohn, Rente mit 63 und diverse Gesundheitsreformen lassen grüßen.

Cameron: Siegen oder fliegen

Zwar wirbt Premier Cameron nun unermüdlich für den Verbleib des Königreichs in der Gemeinschaft . Allerdings muss er sich vorwerfen lassen, aus parteitaktischen sowie innenpolitischen Gründen die Debatte um einen Brexit zunächst befeuert oder zumindest ausgenutzt zu haben. Daher wird die Brexit-Abstimmung auch eine Entscheidung über sein Schicksal. Gewinnt das „Leave“-Lager, dann dürfte die Zeit des Regierungschefs abgelaufen sein – und möglicherweise Rivale Johnson in Downing Street No. 10 einziehen. Stimmen die Briten dagegen pro EU, würde Cameron schlagartig zur entscheidenden Figur in Europa. Gestärkt durch das Referendum hätte er ein klares Mandat, um Reformen einzufordern. Auch Gegner des Premierministers sollten ihm Glück wünschen. Ein sich in einer Phase der Selbstzweifel befindendes Europa bekäme womöglich die Chance zum Neustart.

Für Ende August habe ich meine nächste Reise nach Großbritannien geplant. Ich hoffe, dass ich auch dann noch in die Europäische Union reise.

 

Andreas Kern

Der Diplom-Volkswirt und Journalist arbeitet seit mehreren Jahren in verschiedenen Funktionen im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Kern war unter anderem persönlicher Referent eines Ministers, Büroleiter des Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt sowie stellvertretender Pressesprecher des Landtages. Er hat nach einer journalistischen Ausbildung bei einer Tageszeitung im Rhein-Main-Gebiet als Wirtschaftsredakteur gearbeitet . Aufgrund familiärer Beziehungen hat er Politik und Gesellschaft Lateinamerikas besonders im Blick. Kern reist gerne auf eigene Faust durch Südamerika, Großbritannien und Südosteuropa.

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