Ein Gespenst kommt um in Europa

Was bleibt der Linken auf einem Kontinent, der sich nach dem Kampf der Kulturen sehnt? Nur plumpe Destruktivität.


Tabulos, mutig, wahrheitsliebend: So stellt er sich dar, der am Horizont heraufziehende europäische Konsens. Man reicht sich Bier und Koranverse und prostet sich beim ungeschminkten Auslassen über die Umtriebe des Moslems hüben und drüben zu. Der Koran predigt den Jihad, in Saudi-Arabien, da peitschen sie Menschen aus und hier respektieren muslimische Jungs ihre blonden unverschleierten Lehrerinnen nicht. FAKT! Hingegen ruft das Neue Testament nicht zum Mord auf, brachte die Aufklärung Europa den Rechtsstaat und sind hierzulande Frauen gleichberechtigt. So, which side are you on?!

Derartiges Basiswissen ist längst nicht mehr auf die Erleuchteten im Umfeld der AfD beschränkt. Da ihr bisheriger Vorsprung in solchen Wissensgebieten, ihr ‚Mut zur Wahrheit‘ allenthalben als das Erfolgsrezept der Rechtsalternativen anerkannt wird gilt nun die Devise, schonungslos immer mehr derartige Erkenntnisse in den neuen europäischen Wissenskanon einzuspeisen. Man darf ja den Populisten das Feld nicht überlassen.

No justice, no peace

Christian Lindners FDP zum Beispiel sorgt sich seit „Köln“ sehr um den Rechtstaat. Auflagen gegen zu viel Zucker im Essen oder zu viel CO2 in der Luft sieht man bei ihr zwar immer noch als die Fortführung der DDR mit anderen Mitteln. Und das Recht der Einzelnen gegen den Staat verteidigt sie immer noch da, wo NSA und BKA flächendeckend überwachen, also anmaßender Weise keinen Unterschied zwischen Proleten oder Moslems und der jungen Start-Up Szene mit Projekten in der Betaphase machen. Bei von Geflüchteten begangenen Ordnungswidrigkeiten oder Eigentumsdelikten müssen aber – im Sinne der Integration! – aus pädagogischen Gründen endlich härtere Strafen erlassen werden.

Bei schwereren Straftaten, da sind sich fast alle einig, gilt es, Justitias Waage neu zu justieren: Die richtige Balance zwischen schnellem Volksgericht und unabhängiger Rechtsprechung muss endlich gefunden werden. Ein Roland Freisler mit menschlichem Antlitz könnte das neue Leitbild werden. Man muss ja dem Volk eine Alternative zur Bürgerwehr bieten! Und da sich das Volk zwar unterdrückt und überfremdet fühlt, aber dennoch genau weiß, dass die große Mehrheit sich immer noch als blutseuropäisch und nichtmuslimisch definiert, sieht es sich durch die Forderung nach der Härte des Rechtsstaates nicht selbst bedroht: Schließlich ruft das Neue Testament ja nicht zum Mord auf, zivilisierte Nichtmuslime haben nichts zu befürchten.

Vorwärts immer, rückwärts nimmer!

Aber natürlich: Der Nationalsozialismus und der preußische Obrigkeitsstaat sind ebenso raus aus der Debatte wie das Kolonialrecht. Wer in Bezug auf diese wenige Generationen zurückliegende gesellschaftliche Realitäten – ob nun derart polemisch wie hier oder doch etwas differenzierter – weiterhin für eine liberale Rechtsprechung, einen liberalen Strafvollzug eintritt oder das diskursive Richten einer als nichtmuslimisch definierten Gemeinschaft über ihr als muslimisch kategorisiertes Gegenüber als völkischen Akt beschreibt, gilt als realitätsverweigernder Gutmensch.

Wer sich mit Entfremdung im Kapitalismus, mit Kulturindustrie und regressiver Entsublimierung, mit deutscher Ideologie und der Ideologie der Sozialatomisierung (=Neoliberalismus), autoritärem Charakter und konformistischem Denken beschäftigt, kann in dieser Gesellschaft kein Land mehr gewinnen, denn es gibt einfach keinen Punkt im Diskurs, an dem anzusetzten wäre.

El pueblo, unido

Einige Linke fliehen zurück ins (in Abgrenzung zur SPD: klassische) sozialdemokratische Denken und wollen mit gewerkschaftlichem Engagement den lohnabhängig Beschäftigten andere Perspektiven jenseits des Kulturchauvinismus aufzeigen. Doch am Ende stehen sie hilflos vor Leuten wie Oskar Lafontaine oder Sarah Wagenknecht, die urplötzlich die Eigentumsverhältnisse als Naturgesetze darstellen und anstatt von Umverteilung von einer Gefahr für die Sozialkasse und den Mindestlohn durch zu viele Flüchtlinge sprechen. Sozialchauvinismus in Reinform wird von diesem Flügel der Linken noch vor der AfD am direktesten praktiziert.

Andere Linke erinnern sich an einen Spruch von Marx über Drogen und glauben, über das urlinke Projekt der Religionskritik Zugriff auf die gesellschaftliche (=nichtmuslimische) Debatte zu bekommen. Schnell erkennen sie die antifaschistische Notwendigkeit, dem muslimischen Antisemitismus entgegen zu treten und ihre feministische Pflicht, die islamische Reaktion zu bekämpfen. Dass aber „Freiheit als kämpfende Bewegung“ entsteht, ist für die meisten von ihnen nicht viel mehr als eine Parole, mit der man verbal Widerstand gegen das hochüberlegene BFE simulieren kann.

Wenn Hunderttausende sich den autoritär-nationalistischen und/oder religiös-reaktionären Zuständen in ihrem Land verweigern und dem europäischen Grenzregime per zivilen Ungehorsam den Kampf ansagen, sorgt die unter dem Banner der Religionskritik agierende antimuslimische Linke sich lieber mit der deutschen Mehrheit um die europäische Zivilisation. Für sie entsteht die Freiheit der Anderen durch das Aufplustern des eigenen Egos und nicht dadurch, sie ihnen zu gewähren.

So wird linkes Denken in einer Gesellschaft zerrieben, die Widersprüche nicht dialektisch betrachten, sondern schnell aufgelöst sehen möchte. Jede Nachricht muss klar kommentiert werden, zu allem und jedem braucht es eine klare Position. Mit der Pistole auf der Brust darf man sich entscheiden: Will man wirklich ein Kulturrelativierer sein? Ein Naivling?

Die Verdammten dieser Erde

Diejenigen, die die Grenzen zwischen den voraufklärerischen europäischen Konstrukten vom Abend- und dem Morgenland überwinden, sind vielleicht die einzigen, die die Gefahr eines eskalierenden Kampfes der Kulturen noch bannen könnten. Sie, die die Universalität der Menschenrechte als Einzige praktisch einfordern. Doch um dieses Potential entfalten zu können, müsste es in Europa wieder möglich sein, Eigentumsverhältnisse politisch in Frage zu stellen und den Zusammenhang zwischen Gewalt, Recht und sozialen Verhältnissen zu erkennen, anstatt die bloße phänomenologische Betrachtung einer Prügelei in einem Erstaufnahmelager euphemistisch als „Aufklärung“ zu verklären. Nichts scheint derzeit weiter entfernt.

Marcus Munzlinger

1983 geboren in Berlin, aufgewachsen in Schleswig-Holstein und Hamburg. Studium der Romanischen Philologie mit Schwerpunkt Spanische Literaturwissenschaften im Hauptfach Magister an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit den Nebenfächer Soziologie und Pädagogik. Vorstandsarbeit bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Schleswig-Holstein und Ausschussarbeit in der Jugendbildung der Rosa-Luxemburg-Bundesstiftung in Berlin. Redaktionsarbeit bei der Gewerkschaftszeitung Direkte Aktion in den Ressorts Kultur & Globales. Seit 2014 Mitarbeiter im Programmteam des Kulturzentrums Pavillon in Hannover im Bereich Gesellschaft & Politik. Daneben freie journalistische Arbeit mit Veröffentlichungen in der Jungle World, ak – analyse & kritik und Straßen aus Zucker.

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