Auf dem Nachttisch

…nannte Kurt Tucholsky eine Rubrik, die er in den 1920er Jahren für die „Weltbühne“ schrieb.  Ob  nun eine Monographie über John Heartfield, Gedichte von Walter Mehring, Studien über das „Geschlechtsleben in Melanesien“, katholische Moralbroschüren oder wohl im Suff geschriebene deutsch-französische Wörterbücher, den lombardischen Leser interessierte auch das, was sonst wenig öffentliche Beachtung fand, aber sie doch verdient hatte.


Ich lese zwar nie im Liegen, aber auch bei mir sammelt sich Gedrucktes, das ich nicht wegwerfen kann und das es verdient hätte, eine breitere Öffentlichkeit zu finden. Also, Tucho zu Ehren, bauen wir am Nachttisch an…

Kennen Sie „Cleopatra“?

Ich meine nicht die berühmt-berüchtigte ägyptische Königin, sondern den monumentalen Film gleichen Namens, in dem die veilchenäugige Liz Taylor ihre üppigen Formen im ToddAO-Format ausbreiten durfte. Jenen Film, der 1964 als der teuerste aller Zeiten galt – nach heutigen Maßstäben würde er 300 Millionen Dollar kosten – und der deshalb die Produktionsfirma  Twentieth Century Fox fast in den Ruin trieb. Er wurde zu einer Zeit  gedreht, in der es noch keine computergenerierten Bilder gab und nahezu alle Schauplätze in echter Größe nachgebaut, tausende an Komparsen engagiert und ganze Seeschlachten mit richtigen Schiffen nachgestellt wurden. (Nur die überbordenden Stadtansichten Roms wurden von Genies auf Glas gemalt und unsichtbar ins Bild eingefügt – davon erzähle ich vielleicht ein anderes Mal!)

Vor fünfzig Jahren floppte „Cleopatra“, der Film,  an den Kinokassen einerseits weil die Welle der Antikepen, die er krönen sollte, abebbte und anderseits weil es ihm zwar nicht an optischer Pracht fehlte, aber dafür an erzählerischer Konsequenz, deren Mangel die Zuschauer durch geschichtliche und kulturhistorische Kenntnisse ergänzen mußten. Das große Publikum, das straff erzählte Geschichten gewohnt ist, die sich nicht verzetteln, war weder episch ausdauernd noch genügend ästhetisch gebildet, um den Film mit Wonne zu goutieren.

Wenn man heutzutage die über vierstündige integrale Fassung auf DVD anschaut – der Roughcut soll sogar sechs Stunden lang gewesen sein – dann beeindruckt eben nicht die im Film erzählte Geschichte  – auf die das Hollywoodkino sonst den allergrößten Wert legt – sondern es überwältigen die Tableaux, in denen der Film schwelgt. Die Üppigkeit der Diva Liz Taylor findet ihre Entsprechung in der detailstrotzenden Pracht von Sälen, Tempeln und Gemächern, in denen lebende Bilder stattfinden. Im Sinne eines Narrativs  statisch, aber optisch überwältigend.
„Cleopatra“ von Joseph L. Mankiewicz bezieht  seine Kraft nicht so sehr aus den erzählten Intrigen, Machtträumen und den Liebesgeschichten der Königin mit Julius Cäsar und Marcus Antonius, sondern aus einer malerischen Augenlust  des 19. Jahrhunderts. Er setzt noch einmal eine damals eigentlich schon ausgestorbene Tradition des frühen Stummfilms fort.

Bevor nämlich der amerikanische Erzähl-Film die Welt eroberte, waren es vor allem Streifen aus Italien, die die Menschen in die Kinos lockten mit monumentalen Werken über die gloriose Antike.
Da in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts die meisten Streifen nicht länger waren als eine Filmspule, also nicht mehr als circa zehn Minuten dauerten, konnte man kaum eine komplexe Handlung entfalten. Man beschränkte sich zumeist darauf kurze Theater-Sketche oder das Leben wie es ist darzustellen. Wenige, wie der Zauberkünstler Georges Meliès in Paris, wagten es ganze Romane zu verfilmen: er drehte zum Beispiel 1903 eine satirische Version von  Jules Vernes „Reise zum Mond“. Der Streifen hatte bereits die beachtliche Länge von 15 Minuten. Aber er zeigte weniger Handlung als eine Abfolge von spektakulären lebenden Bildern in Theater-Pappkulissen. Eine Reihenfolge von siebzehn Tableaux bei denen der Zuschauer immer die Sicht wie in einem Theatersessel hatte: nur Totalen, keine halbnahen oder Detaileinstellungen.

Daß da vorne auf der Leinwand etwas – womöglich noch handkoloriert – zappelte, war den Zuschauern Neuheit genug. So blieb denn der Film lange eine Jahrmarktsunterhaltung für die Massen, ein voraussetzungsloses Spektakel, deren Neuigkeitsreiz aber um 1910 nachließ. Ein gebildeteres Publikum mußte gewonnen werden und so verfielen in Italien Produktionsfirmen darauf, die großen Antikenromane des 19. Jahrhunderts zu verfilmen. Natürlich reichten dafür die rollenlangen Filme nicht mehr aus; außerdem konnte man für Abendfüllendes höhere Eintrittspreise verlangen. Und damit die Zuschauer auch auf ihre Kosten kamen, wurde am Aufwand nicht gespart. Schnell wurden die flachen Theaterpappkulissen durch echte Bauten ersetzt, die Kleider stammten nicht mehr aus dem Kostümverleih, sondern wurden eigens nach sorgfältigen Recherchen geschneidert – und als besondere Attraktion holte man sich Theaterdiven für die Hauptrollen – die ließen sich durch enorme Gagen locken.

Ein besonderer Grund für die Auswahl antiker Epen, die im alten Rom spielten, lag sicher auch begründet in der Beschwörung der glorreichen Vergangenheit in jenen Zeiten des noch jung geeinten Italiens. Dies waren die ästhetischen, ökonomischen und auch politischen Voraussetzungen für den ersten mehr als zweistündigen Film „Quo Vadis?“.

Die Verfilmung des Sienkiewicz-Romanes ist aber keineswegs die Umsetzung eines Sprach-Werks in eine filmische Erzählung, wie wir sie heute gewohnt sind. Der Filmwissenschaftler Bruno Grimm zeigt in seinem amüsanten Buch „Tableau im Film – Film als Tableau“, wie sich der italienische Stummfilm aus den Bildtraditionen des 19.Jahrhnderts bediente.

Zwar wird der Roman in beeindruckend prachtvollen Bildern gezeigt, aber auf eine Dramatisierung des Textes oder eine Straffung wie sie auf dem Theater nötig wäre, wird verzichtet. Seine überwältigende Üppigkeit entsteht durch die Nachstellung beliebter Monumentalgemälde. Unsere optischen Vorstellungen der Antike sind durch sie bis heute geprägt – so etwa unsere Auffassung der Tempel und Paläste: reinlicher, weißer Marmor, edle Einfalt und stille Größe der statuesken Akteure (hier hat ja auch Winkelmann seine Spuren hinterlassen) – nun wissen wir aber, daß die Tempel bemalt waren wie die Figuren, in einer Art und Weise, die wir heute poppig bis kitschig nennen würden. Authentisch waren also die frühen Monumentalepen kaum.

In einem idealisierten, edlen Ambiente bewegen sich auch die pantomimischen Darsteller wie Statuen auf Rollen; und damit wir merken, daß wir nicht mehr im Theater mit seinen gemalten Prospekten sitzen, bewegen sie sich auch in die Tiefe. Die damals durchgängig genutzte Tiefenschärfe, ermöglichte es, den ganzen Aufwand wahrzunehmen bis ins Detail. Wenn sich dann im ersten dieser Filme, der nicht auf einem Roman beruhte, „Cabiria“  (1914), auch zum ersten Mal die Kamera bewegt, dann aber nicht, um einen Darsteller zu verfolgen oder einen dramatischeren Eindruck zu erzeugen, sondern um nachzuweisen, daß die grandiosen Kulissen dreidimensional sind. Es soll die Wirklichkeit nicht nur nachempfunden werden aus Pappe und Sperrholz, sondern aus Fleisch, Blut und Stein.
Diese frühen Monumentalspielfilme erzählen nicht mit einer eigenen Filmsprache, sie sind lebendig gewordene Gemälde. Die Bildüberwältigung ist wichtiger als die Dramaturgie. Selbst der dramatische Höhepunkt von „Quo Vadis“, die Hinrichtung der Christen in der Arena, wirkt 1913, als seien die berühmten Gladiatorenbilder des Malers Jean Léon Gérome lebendig geworden – und tatsächlich waren diese oft lebensgroßen Bilder Vorstufen des Films, ihnen fehlte nur noch das letzte Moment der Bewegung…

Fast zu gleichen Zeit, 1913/14, „erfindet“ in Hollywood David Wark Griffith ebenso das Filmepos und mit ihm die noch heute geltende Filmsprache, die Handlung nicht in bewegten Bildern, sondern in Einstellungen zeigt und damit Raum und Zeit zu einer eigenen Wirklichkeit manipuliert. Griffith´ Film „Intolerance“, mit einer antiken Episode, die an Prachtentfaltung den italienischen Epen in nichts nachsteht, sie womöglich noch übertrifft, ist kein lebendig gewordenes Bild mehr, sondern entfaltet seine Geschichte mit einer eigenen filmischen Grammatik; ja, noch mehr – Griffith erzählt in „Intolerance“ gleich vier Geschichten, nicht hinter-, sondern nebeneinander. Geschichten aus verschiedenen Zeitaltern, die nur durch den Schnitt, mit dem er das Tempo und die Spannung gleichzeitig anzieht, steigert oder dehnt erzählt werden. Die Zuschauer, damals noch eher die Tableaux gewöhnt, konnten der Rasanz dieser Stilmittel oft nicht folgen. Selbst heute überfordert diese Art der Narration zuweilen. Denn dabei können wir nicht mehr nur Zuschauer bleiben, sondern müssen teilnehmen, wenn der Film auf uns Wirkung haben soll. Wir müssen die Handlung, die in Tausend einzelne Einstellungen zersplittert ist, zusammensetzen.

Die frühen italienischen Filme waren dagegen „Vorführungen“  im eigentlichen Sinne; Vorführungen für Zuschauer. Hollywood hat diesen Filmstil nahezu verdrängt.
Im Laufe der Filmgeschichte, gab es nur wenige Regisseure, die sich explizit – und dann auch nur in Teilen ihrer Werke – darauf beziehen.  Fellinis Filme etwa folgen nicht der Erzähllogik des realistischen Romanes, die der gewöhnlichen Filmnarration zugrunde liegt. Große Sequenzen in den Arbeiten von Luchino Visconti, etwa die unnachahmliche Ballszene in „Il Gattopardo“, setzen auf die Prachtentfaltung eines vergangenen Jahrhunderts.

Es muß vor allem das Vergangene sein, das im Kino auf diese Weise beeindruckt und uns zu bloßen Zuschauern macht – oder das Unmögliche, das Zukünftige, etwa wie in Stanley Kubricks „2001“- ein Regisseur, der übrigens mit „Barry Lyndon“ auch einen Rokoko-Film in jener Tradition gedreht hat.

Die CGI-Materialorgien des modernen Fantasyfilmes, die zur Zeit das wieder infantile Kino ausmachen, überwältigen zwar auch und erschlagen doch gleichzeitig, sie sind Selbstzweck geworden. Ein Kino mit einer Grammatik, die den Zuschauer zur Mitarbeit nötigt, damit er den Film verstehen und genießen kann, ist das nicht mehr. Hitchcockfilme zum Beispiel, die ohne die Beteiligung des Zuschauers ihre Wirkmacht nicht entfalten können, scheinen heute kaum noch möglich.

Damals sollte die Vergangenheit lebendig werden wie man sie aus den Bildern des 19. Jahrhunderts kannte. Ihre Vergegenwärtigung wurde zur Überwältigung. Heute erschlägt die Vergegenwärtigung des kapitalistischen „Anything goes“ – Supermann soll fliegen? Kannst du haben.  Ein ganzer Avatarplanet erstehen? – Bitte sehr! Ein schwarzes Loch explodieren? Aber ja doch! Unsere Träume und Alpträume werden sichtbar gemacht…

Der Unterschied zwischen Damals und Heute? Die Bildmacht damals erzeugte Staunen. Die Bildmacht heute ist niederdrückend…und beliebig.
Das steht nicht in dem Buch über jene frühen Stummfilme – aber es hilft, die optische Atemlosigkeit und Brutalität der Gelddruckmaschinen  (die heutzutage oft noch mehr kosten als die Riesensummen für „Cleopatra“) zu verstehen. Das frühe Kino kam teils vom Jahrmarkt, teils aus der realistisch-idealistischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts und erst allmählich eroberte es sich die Narration. Das moderne Kino verzichtet fast wieder auf sie und bewirft uns mit Bildern oft ohne Sinn und Verstand, verzichtet immer öfter auf seine elaborierte Grammatik und kehrt zu den Schauwerten der Kirmes zurück. Dabei wollten ja die ersten Epen gerade den Weg vom Rummel weg weisen. – Was man aus 100 Jahren alten Filmen doch lernen kann…
„Cleopatra“, „Cabiria“ und auch dieses Buch über Film als lebendiges Tableau, sind Werke, die die Welt nicht braucht, natürlich. Nichts ist nützlicher als eine IKEA-Gebrauchsanweisung oder eine Tatortfolge…aber ohne diese Filme und solche Bücher wären ich und die Welt ärmer.

 

„ Anthologien liest doch keiner!“

„Das ist aber ein Fehler, mein Herr. Erst mal sind die nicht so lang wie Romane und zweitens können Sie, wenn Sie etwas langweilt, einfach weiter blättern bis zum nächsten Text, ohne das schlechte Gewissen, Sie hätten etwas Entscheidendes verpaßt.“

Manche Städte treiben einigen Aufwand um ihre „großen Söhne“ – wo bleiben die Töchter? –  In Bielefeld zum Beispiel rühmt man sich des  Stummfilmregisseurs F.W. Murnau. Dabei ist er am Teutoburger Wald bloß geboren und wurde schon mit drei Jahren beim Umzug der Familie nach Kassel expediert.

In der Nachbarstadt Osnabrück dauerte es lange, bis man sich endlich des dort geborenen Malers Felix Nussbaum erinnerte. 52 Jahre nach seinem Tod in Auschwitz erbaute man für seine erhaltenen Werke 1998 das „Nussbaum-Haus“, ein von Daniel Libeskind entworfenes Museum. Und nun liefert man endlich einen sehr schönen Gedenkband zu und über Nussbaum nach…

Felix Nussbaum hatte in den späten 1920er Jahren seine ersten Erfolge in Berlin, die ihm einen Aufenthalt in der Villa Massimo einbrachten. Er machte sich keine Illusionen darüber, was ihm als Juden im Nazistaat erwarten würde und emigrierte bereits 1933 nach Paris und später nach Brüssel. Nach der Okkupation Belgiens lebten seine Frau und er im Untergrund, bis sie denunziert und nach Auschwitz geschafft wurden. Die meisten seiner über 450 Werke entstanden in der Zeit der Verfolgung und dokumentieren Unterdrückung, Bedrohung und Verlassenheit wie kaum ein anderes bildnerisches Werk des 20. Jahrhunderts. Die politischen Aussagen rekurrieren stets auf das persönliche Erleben. Nussbaum gruppiert oft um sein eigenes Schicksal die traurigen Schicksale der verfolgten Juden in Europa. Seine Selbstporträts vereinen zugleich surreal, expressionistisch und dokumentarisch das Leiden der verfolgten Juden, ob er sich nun mit Geschirrtuch und Trichter auf dem Kopf oder mit dem Judenpass mit rotem „Juif“-Stempel darin malt.

Nussbaums Werk – wie könnte es anders sein – wird zwar von einem Thema beherrscht, aber er gewinnt ihm zahlreiche Facetten ab zwischen Angst, Verzweifelung, Depression, Alp und Resten von Hoffnung.

Viele Anknüpfungspunkte also für die zwanzig BeiträgerInnen der Anthologie „Menschen und Masken“, mit der man in Osnabrück des bedeutenden Malers gedenkt. Herausgeberin Jutta Sauer, die sich schon des Öfteren des Künstlers angenommen hat, bat prominente AutorInnen, sich Nussbaum anzunähern; jeweils ein Bild sollte der Auslöser für einen Text sein.
Klingt nach Bildbeschreibung wie in der Schule – aber was ist daran schlecht, sich mal auf das, was man sieht, zu konzentrieren und nicht gleich loszuschwärmen?

Das trifft auch für das Buch selbst zu – gebunden wie ein ordentliches Lesebuch der Mittelstufe, jawohl, gebunden, nicht geheftet – das wird nicht zerfleddern. Die Abbildungen, sehr sorgfältig auf Lesebuchkunstdruckpapier und der Satz gewissenhaft, fehlerlos, ich wette, nicht mit dem Computerprogramm, sondern sozusagen von Hand mit Auge korrigiert. Das ist heutzutage eine Rarität!
Burkhard Spinnen nimmt die Aufgabe der Anthologie ganz wörtlich – er erinnert sich an seine erste Bildbeschreibung in der Quarta und liefert dann die Beschreibung eines Nussbaum-Gemäldes, das ihn schließlich zu Reflexionen über Realismus und Wahrheit in der Kunst führt. Johanno Strasser führt Bild und Biographie, Botschaften und Geschichte zueinander, indem er das „Selbstbildnis mit dem Judenpass“ beschreibt. Mirjam Pressler – ihre Mutter war in der  Nazizeit bedroht – widmet sich in ihren Büchern, unter anderem über Anne Frank, schon immer den Verfolgten und Ausgestoßenen. Sie reflektiert die Rolle, die ein Bild von Felix Nussbaum in ihrem eigenen Leben gespielt hat. Joseph Haslinger und Feridun Zaimoglu versuchen die Annäherung an Nussbaum         mit Geschichten in denen sich die Thematik des Malers im Eigenen Leben und Schreiben wiederfindet.

Short Stories, Kurzessays, Reflexionen – manchen merkt man die Auftragsarbeit an; aber ist das schlimm? Wie eine Bildbeschreibung als Klassenarbeit, sollen ja auch diese besonderen Bildbeschreibungen zeigen, wie fähig man ist, sich mit dem Werk eines anderen auseinanderzusetzen – und da Nussbaums Werk vom Leiden berichtet, sind die Texte darüber auch Zeugnisse von Verständnis und Mitgefühl – davon steht natürlich selten etwas in den Schulbüchern; in diesem schon.
Bei Michael Wildenhain, Alissa Walser, Jürgen Lodemann und den anderen wird im Gesamtbild der Anthologie spürbar, daß sie nicht allein über einen beinahe verschollenen Maler aus der Unrechtszeit vor 80 Jahren schreiben. Das Elend der verfolgten Juden, die versuchten wie Nussbaum in den Nachbarstaaten Rettung zu finden, resultierte auch aus dem Mißtrauen und der Abwehr, die ihnen entgegenschlug; damals galt in vielen Ländern das Boot als voll. Ähnlich wie heute.

Diese Anthologie „Menschen und Masken“ ist nicht nur in Inhalt und Form, sondern vor allem in der Absicht ein richtiges Schulbuch – man kann was draus lernen:
„Sogar einen umgedrehten Seneca, mein Herr!“
„Non scholae sed vitae discimus “ – und manchmal sehr bitter!

Was fehlt denn noch? Was fehlt denn noch?

Ach, ein ceterum censeo, das man inzwischen von mir ja auch erwartet – also bitte, eins mit einem Buch als Aufhänger…:

Meine Lieblingsgegner von der „Demo für Alle“ wackeln sich zusammen zu neuen Untaten: Hedwig von Beverfoerde, meine Herzensadlige, übernimmt augenblicklich die Verantwortung im deutschen Sprachraum für eine europäische Initiative. Die Absicht dieses aristokratischen Unterfangens: das EU-Gemeinschaftsrecht möge unter dem Begriff Ehe nur die Gemeinschaft von Mann und Frau anerkennen. Auch der Familienbegriff soll eine quasi gesetzliche Strengformulierung bekommen: Familie soll nur noch aufgrund von Ehe und/oder Abstammung definiert werden. (Hören wir da Blut und Boden, wirbeln die Begriffe Bankert und Bastard wieder durch den Raum? – Na, angesichts der Adligen an der Spitze der Bewegung, liege ich da vielleicht nicht ganz falsch.)
Diese EU-Initiative zeigt, daß die „Demo für Alle“ weit mehr will, als Homosexuelle zu Sündenböcken für angebliche Fehlentwicklungen der Gesellschaft zu machen und ihren Zugang zu Menschenrechten zu verhindern. Das wahre Ziel ist die Rückkehr zu ständischer Ordnung und Sittlichkeit, wie sie vor der Aufklärung grassierte. Der Kampf gegen sexuelle Liberalisierung und zeitgemäße Sexualpädagogik ist nur ein Aspekt des gezielten Rollbacks, den die Kreise um die Demo in Gang setzen.

Das zeigt eine Materialsammlung von Anja Henningen, Elisabeth Tuider und Stefan Timmermanns: „Sexualpädagogik kontrovers“.

Wer dachte, die hysterischen Attacken, die gegen Bildungspläne in den Ländern geführt werden, seien bloß verstaubte Panik, die noch einmal wie in den 60er Jahren aufflackert gegen befreite Sexualität, der wird hier eines Besseren belehrt. Die Beiträge von Sexualpädagogen, Soziologen und Pädagogen zeigen eines ganz deutlich: es geht um mehr als bloß alberne Furcht vor der angeblichen „Frühsexualisierung“. Mit diesem unwissenschaftlichen Begriff hetzt man konservative Eltern auf – die Stimmvieh werden sollen für nationalistische, völkische und ganz allgemein reaktionäre Gruppierungen. Der Soziologe Andreas Kemper geht in seinem sorgfältig recherchierten Beitrag diesen Verflechtungen der antisexuellen Kämpfer mit der AfD und klerikal-aristokratischen Netzwerken nach. Der Kampf gegen Homosexuelle, Lesben, Transmenschen, gegen Genderforschung und Aufklärungsunterricht stellt nur einen Bereich der autoritären Träume dieser gesellschaftlichen Gefahr dar.
„Aufklärung“ meint bei diesen Herrschaften nicht nur, daß Kinder in der Schule von Körper und Begehren erfahren und ohne Vorurteile aufwachsen sollen (die man durch die Bank wieder installieren möchte). Ganz allgemein denunziert man „die“ Aufklärung als Befähigung zum selbstständigen Denken in den Schulen, Universitäten und in der Politik.

Der schrille Schrei aus dem Umfeld der „Demo für Alle“ nach „Elternrechten“ ist in Wahrheit ein Gekreisch nach der Wiedereinführung alter, muffiger, brutaler Autorität, die Sehnsucht nach Maßregelung und Strafen – nicht nur für Kinder; die Gier nach gesellschaftlicher Normierung wie sie einmal herrschte und die längst verfault ist. Diese Normierung soll den Denkfaulen, Lebensunfrohen, Autoritätshörigen wieder zum Zurechtfinden in einer komplex gewordenen Welt verhelfen.

Die Lügenpropaganda von der weltumspannenden Homo- und Genderlobby, die die Autoren des Bandes entlarven und widerlegen, ist nur ein Mittel eines größeren politischen Kampfes gegen die Demokratie. Daß dabei soviele Adelige (die von ihren alten Rechten und Besitzungen träumen) – wie Beatrix von Storch, Hedwig von Beverfoerde oder Mathias von Gersdorff mitmachen – sollte uns zu denken geben. Die Aufklärung ist noch längst nicht vollendet, die Demokratie noch lange nicht gesichert, wie wir in diesen Tagen augenreibend vermerken.

Sexualität ist eigentlich das Persönlich-Privateste im menschlichen Leben. Der Versuch, die Menschen wieder grob bei den Geschlechtsorganen zu packen und ihre individuelle, emotionale Entfaltung erneut zu verteufeln, ist ein Mittel des rechten (und hier auch rechtschristlichen Kampfes) gegen die Demokratie und die offene Gesellschaft.

Hach, wenn man sowas auf dem Nachttisch hat, kann man nur schwer einschlafen…und Cleopatra übrigens, die sexualfreudige Königin, hätte sich köstlich über den Aufstand der stockmoralischen Eunuchen für das Himmelreich amüsiert.

Die besprochenen Bücher:

Bruno Grimm, Tableaus im Film – Film als Tableau. Der italienische Stummfilm und Bildtraditionen des 19. Jahrhunderts. Wilhelm Fink Verlag

Jutta Sauer (Hrsg.), Menschen und Masken. Literarische Begegnungen
mit dem Maler Felix Nussbaum. Zu Klampen-Verlag
Anja Hennigsen, Elisabeth Tuider, Stefan Timmermanns (Hrsg.),
Sexualpädagogik kontrovers. Beltz Verlag

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