Straße der Unabhängigkeit – über eine türkische Geliebte…

Gastautor Michael Hendl erzählt von der pulsierenden Istiklal Caddesi – kurz vor dem Anschlag in Istanbul


Istiklal Caddesi heißt: „Straße der Unabhängigkeit“. Und die Türkische Nationalhymne übersetzt man „Unabhängigkeitsmarsch“. Mehr Ur-Idee einer Türkei à la Atatürk geht sicher kaum.

Mit einem Anschlag, genau einen Tag nach dem 101. Jahrestages des Sieges im Befreiungskrieg und am Vortag des in Kraft treten des Flüchtlingspakts mit der EU, exakt in dieser Straße, wurde ganz bewusst auf einen Nerv gezielt: Auf der Istiklal flaniert man gemeinsam! Nicht nur an lauen Sommerabenden wehen dort kurze Röcke und Kopftücher im selben Wind und alle haben auf ihre Art ihr Vergnügen beim Sehen und Gesehen werden.

Die Straße verläuft zwischen der Bergstation der „Tünel“, einer vom Naturhafen Goldenes Horn heraufkommenden, unterirdischen Standseilbahn und dem Taksim-Platz, an dessen Seite der Gezi-Park liegt. Zur einen Seite gehen die Straßen und Gässchen oft steil hinunter ans Goldene Horn, zur anderen an den Bosporus. Gerade einmal gut eineinhalb Kilometer lang ist sie. Aber prall voll von Genüssen für alle Sinne.
Diese Straße ist mir wie eine Geliebte in Istanbul geworden. Aber keine heimliche! Mit rund einer Million Besucher an einem ganz normalen Tag teilt man sich diese Affäre. Liebe ist nicht teilbar. Ich betrachte es, nach 30 Jahren Begeisterung für die Türkei und seit zehn Jahren hier wohnend als mein ganz persönliches Zeichen gelungener Integration: Mir ist diese Istiklal ans Herz gewachsen. Ich suche Sie, ich finde sie, ich vermisse sie, wenn ich nicht mit ihr sein kann. Natürlich habe ich nicht mitgezählt, aber ich bin sicher, dass ich bei keinem der vielen Besuche Istanbuls auf einen Gang über „meine“ Istiklal Caddesi verzichtet habe.

Entlang der Istiklal hinein ins pure Leben

Ich erinnere mich gut, schon, als ich das erste Mal auf dieser Flaniermeile ging, gab es da eine unbestimmte Angst vor Explosionen. Aber der Grund war ein ganz anderer als heute: Überall entlang der Straße saßen Männer auf Schemeln und füllten emsig aus Gasflaschen auf, was wir Deutschen damals fälschlicherweise für Einwegfeuerzeuge hielten. Die findigen Händler hatten ein System gefunden, leere Einwegfeuerzeuge mit Nachfüllventilen zu bestücken. Recycling auf türkisch. Immer mehr „wagte“ ich mich entlang der Istiklal hinein ins pure Leben. In den 1980er und 1990ern waren die Seitengassen noch verpönt. Damals versuchte manch finstere Gestalt gutgläubige und neugierige Touristen in vermeintlich amouröse Abenteuer zu locken.

Mein Freundeskreis in Istanbul wuchs mit den Jahren an – und damit auch die Anzahl meiner Besuche der Istiklal: Mit wen auch immer ich mich verabredete, wir trafen uns dort. Die mondäne „Cicek-Pasaji“ (Blumenpassage) mit ihren unzähligen kleinen und größeren touristisch ausgerichteten Lokale entdeckte ich noch auf eigene Faust. In die verborgeneren, mit ihren viel interessanteren Lokalen in dem Gässchen daneben, eingeklemmt zwischen den Fischhändlern, die alles feilbieten, was das Meer hergibt, führten mich neue Freunde. Einheimische, die sich auskannten, die schwärmten und die mich unbedingt teilhaben lassen wollten. Auf diese Weise lernte ich dort zum Beispiel die „Cumhuriyet Meyhanesi“ (Meyhane, ein Mix aus Restaurant und Nachtlokal ist unübersetz-, nur erlebbar und Cumhuriyet heißt „Republik“) kennen. Ein Traditionslokal, das schon zu den Lieblingslokalen Atatürk’s zählte. Dort machte ich auch zum ersten Mal mit dieser soghaften „türkischer Barmusik“ Bekanntschaft, dem „Fasil“.

Verführungen auf jedem Meter. Aber nicht nur musikalische, auch Kulinarische: Die unzähligen Restaurants, Kneipen, Cafes und Geschäfte entlang dieser Straße zaubern einem manche Pfunde auf die Hüften. Alle Spezialitäten der Türkei inklusive derer aus Nachbarländern oder Kulturen, die ihre Spuren hinterlassen haben, werden feilgeboten. Wie im Orient üblich: farbenfroh, überladen, verlockend, duftend. Kurz: Es läuft einem schon im Vorbeigehen das da Wasser im Mund zusammen.

Nicht selten blieb mir das Herz stehen

Voller Stolz präsentierte ich jedem meiner deutschen Besucher in Istanbul die Istiklal. Manchmal ließ ich mich auf einen dieser von Straßenhändlern angepriesenen „Kauf fürs Leben“ ein. Gut, keiner davon überlebte wirklich lange. Allerdings erstand ich in einem Geschäft auch das einzige Paar solider und schöner Schuhe in gut 30 Jahren Türkei. Gegenüber von der „Deutschen Buchhandlung“, eine von der Art, wie man sie leider in Deutschland kaum mehr findet, lag dieser Laden. Nicht selten blieb mir das Herz stehen, wenn die Kinder aus dem Viertel auf die Puffer der antiken Straßenbahn aufsprangen, deren Schienenstrang mitten auf der Straße verläuft. So oft schon hörte ich länger als ursprünglich geplant den in sich und ihr Tun versunkenen Straßenmusikern zu, lauschte diesen fremden, nun so vertraut gewordenen Klänge, dieser einzigartigen Mixtur. Weltmusik Marke Istanbul, Marke Istiklal.

Vor etwa drei Jahren war ich einmal auf eine Feier in einer der Istiklaler Altbauwohnungen eingeladen. Es ging zunächst diese uralten und ausgetretenen Stiegen hinauf und dann gleich auf den bauschiefen Balkon. Von dort aus genoss ich den begeisternden Blick auf das abendliche Flanieren von hoch oben.

Aber natürlich: Auch die Istiklal hat sich in den letzten Jahren verändert. Schleichend. Erst kaum wahrnehmbar. Die Gassen um die Straße herum wurden „aufgeräumt“. Gut, vielleicht besser so. Aber naja, zu den an Holzspießchen frittierten Miesmuscheln konnte man früher an jedem Imbiss sein Pils trinken. Das gab es irgendwann nicht mehr überall. Die schönen kleinen Fachläden, auch die weltbekannter Mode-Labels, wurden weniger, weil im „Weltrekordland der Shopping Malls“ immer mehr von ihnen außerhalb des Zentrums ihre Refugien aufstellen: Größer, üppiger, raumgreifender.

 Schmunzeln über türkische Hardliner

Auch ausländische Botschaften haben sich über die Jahrzehnte hier angesiedelt. Letztes Jahr schmunzelten wir noch über türkische Hardliner, die nach dem Abschuss des russischen Jets, wegen der Ähnlichkeit der Fahnen und ihrer eigenen Dämlichkeit, vor der holländischen statt der russischen Botschaft Rabatz machen. Aber auch die Botschaften entlang der Istiklal verändern sich. Nicht nur die israelische wurde zur Festung ausgebaut. Die Umgebung des berühmten Galatasaray Gymnasiums wurde immer mehr zum Park- und Aufmarschplatz von Polizei und Wasserwerfern.

Die klassischerweise auf dieser Straße vorgetragenen Proteste wurden weniger – und auf alle Fälle kürzer. Eines jedoch ist immer geblieben: Dieses Gemeinschaftsgefühl der Menschen, die zusammen die Istiklal hinauf und hinunter flanieren. Menschen, die nicht auf die Nationalität ihrer Freunde schauen. Jeder Istiklal-Verliebte ist hier immer herzlich willkommen.

Etwa vor einem Monat war mein vorletzter Besuch auf dem Boulevard. Diesmal schlich ich mich per „Metrobus“ von Norden heran. U-Bahn-Fahren erschien mir schon zu gefährlich. Ich kaufte ein in diesem Shoppingzentrum, aus dem der Attentäter zunächst geflüchtet sein soll. Dort sind Tchibo, Deichmann und Media-Markt untergebracht. War er deshalb nach dem Schließen des Deutschen Generalkonsulats und anderer deutscher Einrichtungen zunächst dorthin gegangen? Möglicherweise.
Mein letzter Besuch liegt nun gerade knapp zwei Wochen zurück. Ich flanierte mit einem deutschen Freund die Istiklal hinunter. Wir sprachen darüber, dass er schon Anfang der 1990er in die Türkei gezogen war, ungefähr damals, als ich es auch das erste Mal vorhatte. Er zeigt mir sein damaliges Büro. Wäre ich zur selben Zeit hier sesshaft geworden: Irgendwo auf dieser Straße wäre sicher auch meine Arbeitsstätte entstanden.

Büros an Büros. Nebeneinander und übereinander. 14 Millionen Einwohner und doch: eine kleine Welt! Ich stattete auch der Bergstation der Tünel wieder meinen Besuch ab, nur um festzustellen, dass der gleiche selbstbewusste Kater in dem ganzen Trubel immer noch gelassen auf dem Fensterbrett vor sich hin döste. Seit gut drei Jahren ist auch er so etwas wie ein Freund. Ein Wiedersehen mit einem „alten“ Bekannten.

Kein Ende der Verwundungen in Sicht

Das alles ist nun vielleicht, im wahrsten Sinn des Wortes mit einem Schlag, mit einer Explosion, anders geworden. Über Ostern werde ich wieder in Istanbul sei. Und wieder im Viertel wohnen. Ich bin gespannt, wie mutig ich dann sein werde. Werd ich es mich trauen, meine alte, lieb gewordene Freundin zu besuchen, als wäre nichts gewesen? Werden wir den gewohnten Spaß miteinander haben? Im Moment glaube ich leider: Nein, das werden wir nicht. Die Zeit mag alle Wunden heilen, aber die Verwundungen scheinen noch nicht zu Ende. Höchste Zeit auch dafür.

Michael Hendl

Michael Hendl ist freiberuflicher Berater für Organisation und Marketing. 60 Jahre alt, in Bayreuth geboren. Er lebt er seit 10 Jahren inder Türkei, mittlerweile in Izmir.

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