Bentley statt Poesie-Album

Vom Rebellensymbol zum Mainstream. Zahllose Menschen tragen auch hierzulande Tattoos. Dabei warnen Experten immer wieder vor Gesundheitsrisiken, zudem fällt man mit Körperbildern nicht mehr auf. Für Stilikonen wie Kim Kardashian, Cristiano Ronaldo oder Gwen Stefani ist reine Haut das neue Ideal.


US-Popsängerin und Stilikone Gwen Stefani wird der Satz zugeschrieben, dass sie nichts an ihrem Körper haben möchte, das sie nicht in drei Jahren wieder los sein kann. Soviel Lebensklugheit scheint nicht jedem Zeitgenossen gegeben zu sein, wie man jeden Sommer in den Schwimmbädern der Republik feststellen muss. Großflächig lassen sich inzwischen unzählige Menschen Farbe unter die Haut stechen. Gewiss dürften darunter auch ansonsten kritische Verbraucher sein, die beim Einkauf auf dem Wochenmarkt den Direkterzeuger ihres Vertrauens schon mal fragen, auf welcher Weide das Rind einst weidete, das nun in Form von Steaks oder Schinken konsumiert werden soll. Dabei warnen Verbraucherschützer und Gesundheitsexperten unisono, dass man Tätowier-Risiken für den menschlichen Körper auch bei strenger Hygiene und sauberem Handwerk nicht ausschließen kann.

Tattoos sind schmerzhaft, Entfernungen noch mehr

Ebenso ist davon auszugehen, dass die meisten der inzwischen überall anzutreffenden Tattooträger ihre Jeans und Shirts immer noch aussortieren, wenn Mode oder Abnutzung klare Signale zum Neukauf senden. Außerdem würde es jeder Logik sowie den Erfahrungswerten, die ich mit meiner eigenen Frau gesammelt habe, widersprechen, wenn nicht auch bei weiblichen Tattoo-Fans Schuhmode eine äußerst geringe Halbwertzeit hätte. Dass sich Menschen dennoch für viel Geld und unter ebenso viel Schmerzen die eigene Haut mit schwer entfernbaren Bildern bekritzeln lässt, ist mir deshalb eines der am schwersten erklärlichen Phänomene unserer Zeit. Und wenn sich Model Heidi Klum erst den Namen ihres Lebensabschnittsgefährten großflächig auf den Arm auftragen lässt, um diesen nach vollzogener Trennung für noch mehr Geld unter noch mehr Pein weglasern zu lassen, dann empfinde ich neben Verwunderung durchaus so etwas wie Schadenfreude. Einst genügte es, den Liebsten oder die Liebste als Foto in der Brieftasche mit sich zu führen. In Zeiten, in denen in westeuropäischen Großstädten nahezu jede zweite Ehe geschieden wird, spräche vieles dafür, zu dieser bewährten und leicht adaptierfähigen Foto-Praxis zurückzukehren – und die Tinte im Arsenal des Bildermachers zu lassen.

Eine Bekannte berichtete mir jüngst unter Kopfschütteln, dass sich bei ihren Kollegen die Themen der Kantinengespräche deutlich gewandelt hätten. Man begutachtet nun oft die neuesten Körperbilder und tauscht sich über die damit verbundenen Schmerzerfahrungen aus. Manchmal mutiert der Mittagstisch auch zum Brainstorming für den nächsten Stich. Andere Zeiten, andere Sitten. Allerdings muss man anmerken, dass die entsprechenden Damen und Herren nicht die Crew der Gorch Fock oder wenigstens das Personal eines Hard Rock Cafés sind. Nein, es handelt sich um brave Controller, Wirtschaftsingenieure oder Bürokaufleute eines mittelständischen Familienbetriebes. Mann/Frau trägt da auch keinen Anker auf dem Arm oder indianische Tribals. In sind gerade Kussmünder, Blumenranken oder Lebensweisheiten in fremden Sprachen. Motörhead-Legende Lemmy Kilmister, Gott hab ihn selig, hätte diese Tinten-Vereinnahmung durch die Janines und Marvins dieser Welt wohl als eine Art Sakrileg angesehen. Quod licet Lemmy, non licet Dennie.

Früher trugen Rocker Körperschmuck, heute Präsidentengattinnen

So mag es früher der Hauch des Rebellischen gewesen sein, der meist junge Menschen in die oft verruchten Tätowierstuben getrieben hat. Rockstars, Seeleute, Ganoven und Fremdenlegionäre – das war sie, die Klientel mit den Bildern auf der Haut. Und nicht Cindy und Mandy, die Quarkbällchen in der Leipziger Vorstadt feilbieten oder die zweite Ehefrau des früheren Bundespräsidenten, die mit dem Fahrrad durch Großburgwedel zum Brötchenkaufen fährt. Spätestens als ich an einem Eisstand hinter Mutter und Tochter, die sichtbar ein Partnertattoo trugen, warten musste, wurde mir klar, dass dieser permanente Schmuck vom Sinnbild des Unangepassten in den Status eines Fleisch gewordenen Poesiealbums gewechselt ist. Wenn Mama und Tochter dann noch eine Disney-Figur oder eine kleine Elfe auf ewig verbindet, mag man schon dazu übergehen, das Ganze unter dem Blickwinkel einer neuen Spießigkeit zu betrachten.

Wie sieht „Kretzsche“ mit 80 aus?

Das Motto der mächtigen Augsburger Patrizierfamilie Fugger lautete „nihil sub solem perpetuum“ („nichts unter der Sonne hat Bestand“). Was auf die Macht von Adelsgeschlechtern zutrifft, sollte erst recht für modische Accessoires gelten. Als Handballstar Stefan „Kretzsche“ Kretzschmar  in den 90ern als Pionier des Tattoo-Trends durch die deutschen Sporthallen tobte, dachte ich mir: Besonders hübsch dürfte das nicht aussehen, wenn der Herr samt Kriegsbemalung einmal auf die 80 zugeht und die auf seine Wade gepinnte Ex, Franziska van Almsick, dann genauso welk dreinschaut, wie das reale Vorbild – falls die nicht versucht, den optischen Alterungsprozess mit chirurgischer Hilfe etwas zu verzögern.

Ich konnte es mir auch nicht verkneifen, eine bis auf Kopf und Gesicht komplett vom Tätowierer umgestaltete Friseurin zu fragen, was sie denn später einmal, im Rentenalter, über ihre fast vollständige Hauttapete denken möge. „Dann sehen doch alle so aus!“, lautete ihre ebenso knappe, wie schlagfertige Antwort. „Schön“, so entgegnete ich, „muss das dann trotzdem nicht sein“. „Geschmack ist und bleibt Geschmacksache“, war wiederum die Antwort der Haarschaffenden, was man wohl als Minimalkompromiss zwischen Tattoo-Fans und den Verächtern dieser Mode auf den Punkt bringen kann.

Es gibt Hoffnung!

Immerhin gibt es für uns Tattoo-Skeptiker Hoffnung, dass der Trend doch irgendwann abebbt – oder zumindest zu seinem Ausgangspunkt bei Rockstars, Matrosen und fahrendem Volk zurückkehrt. Mit Cristiano Ronaldo und Bastian Schweinsteiger verweigern sich beispielsweise zwei der derzeit besten Fußballer weltweit dem Gang zum Stecher. Und niemand Geringeres als die aktuell wohl größte Stilikone alive, US-It-Girl Kim Kardashian, begründete ihre Anti-Tattoo-Haltung ebenso knapp wie nachvollziehbar: Man pappt auch keinen Sticker auf einen Bentley!

Kardashians Worte in Gottes Gehörgang. Hoffen wir, dass auch Cindy und Marvin ihren Körper irgendwann als Bentley, nicht als wandelndes Poesie-Album begreifen.

 

Andreas Kern

Der Diplom-Volkswirt und Journalist arbeitet seit mehreren Jahren in verschiedenen Funktionen im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Kern war unter anderem persönlicher Referent eines Ministers, Büroleiter des Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt sowie stellvertretender Pressesprecher des Landtages. Er hat nach einer journalistischen Ausbildung bei einer Tageszeitung im Rhein-Main-Gebiet als Wirtschaftsredakteur gearbeitet . Aufgrund familiärer Beziehungen hat er Politik und Gesellschaft Lateinamerikas besonders im Blick. Kern reist gerne auf eigene Faust durch Südamerika, Großbritannien und Südosteuropa.

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