Der Walfisch trieb nur Schabernack – Nachbemerkungen zum Stereotypverfertigen

Daniel Rapoport antwortet auf Kritik an seiner Theorie des Stereotyps und präzisierte die Idee von Sprache als Sozialisationshandlung


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Mich ereilte Kritik. Yay! Sonst wäre der Aufsatz jetzt zu Ende und ich müsste die Spülmaschine ausräumen gehn. So kann ich weiter schreiben. Das Ende ist das schönste Ende, nach dem es immer weiter geht. Ich bitte dann, selbstredend, um Kritik zur Kritik!

Na gut. Im Folgenden soll ein paar Einwänden entgegnet, einige Verdeutlichungen vorgenommen, einige Implikationen ausgeführt werden. Das Ganze soll nicht aus den Nähten platzen, aber doch im Mindesten drei Punkte verklaren: Erstens, die Frage, ob Stereotype vielleicht aus thesenökonomischen Gründen gebildet werden. Zweitens möchte ich den Einwand entkräften, meine Ideen würden allzusehr Handeln gegen Wahrnehmen setzen. Und drittens will ich ein paar heikle philosophische Implikationen der Idee skizzieren, dass Reden stets auch Sozialisationshandlung sei.

Sind Stereotype thesenökonomisch sinnvoll?

Mein Freund Erhardt Barth ist ein kluger Mann und ein KI-Forscher. KI bedeutet künstliche Intelligenz. Er hat einen guten Einwand gebracht; ob es ein Einwand ist oder eine Weiterung soll im folgenden untersucht werden.

Erhardt wandte mir ein, dass Stereotype durchaus sinnvolle Wirklichkeitsmodelle sein können, wenn man sich nämlich gezwungen findet, aus den Erfahrungen weniger Einzelfälle eine Hypothese abzuleiten.

Nehmen wir einmal an, unser Hirn wäre eine Art Problemlösemaschine, deren Funktion (zumindest zum Teil) darin bestünde, Hypothesen über die Wirklichkeit herzustellen. Diese Hypothesen sollen der Bewältigung der Wirklichkeit dergestalt dienen, dass mit ihrer Hilfe halbwegs verlässliche Aussagen über künftig eintretende Szenarien möglich würden. (Nichts anderes ist eine Hypothese, als eine Funktion, die von einer endlichen Anzahl an Beispielereignissen auf weitere (im besten Fall alle) Ereignisse der selben Kategorie extrapoliert.)

Sicher ist einsichtig, dass regelmässige Ereignisse, die überdies häufig eintreten, sehr gute Hypothesen zeitigen werden; gut in dem Sinne, dass sie Szenarien mit hoher Genauigkeit vorher sagen. Beispielsweise wird die Hypothese, dass die Sonne morgen früh aufgeht, tendenziell selten versagen; dafür hat unsere Erfahrung in der Vergangenheit hinreichend viel Belegmaterial gesammelt. Außerdem kennen wir einen kausalen Mechanismus, den wir für das alltägliche Sonnenaufgehen verantwortlich machen. Die meisten Menschen jedenfalls verfallen nicht Abend für Abend in die verzweifelte Ungewissheit, sie könnte morgen aufzugehen vergessen.

Soweit, so einfach. Stellen wir uns nun den Fall einer weniger klaren Sachlage vor. Es könnten widerstreitende Erfahrungen; es könnten auch sehr wenige Erfahrungen mit einer Sache vorliegen. Dies dürfte häufig die Ausgangslage bei der Herausbildung von Stereotypen sei: Dass wenige Erfahrungen mit der inkriminierten Gruppe vorliegen; und/oder sehr unterschiedliche. Zu gewissem Grade jedenfalls bildet diese Lage den Ausgangspunkt meines Essays ab, also die Frage, wie aus Vielfalt Einfalt wird. Ich will aber nicht unerwähnt lassen, dass zumindest der Fall, dass man zwar täglich beim Türken Döner kauft und mit einem Griechen zusammenarbeitet — dass also Fälle, in denen man viele Beispiele kennt, die dann aber trotzdem zugunsten eines rassistischen Stereotyps als Ausnahmen behandelt werden, obwohl alles dafür spräche, sie als Regel anzusehen — dass diese Fälle unbehandelt bleiben.

Was tut das Hirn-Maschinchen?

Gut. Was sollte unser Hirn-Maschinchen im Fall einer widersprüchlichen und/oder kargen Datenlage tun? Im Wesentlichen gibt es zwei Strategien, aus solchen Daten Hypohesen abzuleiten. Eine aufwändige und eine einfache.

Aufwändig wäre, das Hirn eine sehr elaborierte Hypothese mit vielen Parametern und Zusammenhängen aufstellen zu lassen, die alle bisherige Erfahrungen in einen komplizierten, aber präzise zutreffenden Zusammenhang bringt. Diese Hypothese wird den Vorteil haben, alle bisherigen Erfahrungen sehr gut zu integrieren, aber sie könnte in der Zukunft, einfach weil ihre (zahlreichen) Parameter sehr auf ein spezielles, kleines Beispielset an Erfahrungen angepasst wurde, versagen. Sie wäre überspeziell. Sie wäre nicht generell genug, um auch bei neuen, noch unbekannten Fällen sicher zu funktionieren.

Die andere — einfache — Sorte Hypothesen würde eine sehr versimpelte Approximation der bisherigen Erfahrungen geben und nur wenige Zusammenhänge und Anpassungs-Parameter kennen. Diese minimalistischen Hypothesen haben den Vorteil, dass sie selten genau, dafür sehr oft ungefähr zutreffen. Und häufiges Ungefähr-Zutreffen ist besser, als seltenes Genau-Zutreffen. Das ist der Punkt. Hinzu kommt, dass einfache Hypothesen weniger Aufwand zu ihrer Herstellung benötigen. Sie sind in jeder Hinsicht billiger. Deshalb sind, Aufwand und Nutzen abgewogen, einfache Hypothesen mit wenigen Paramteren oft sinnvoll. Stereotype zum Beispiel. Wären sie also lediglich ein Beipiel effizienter Hypothesen-Ökonomie?

Das Argument ist gut; denn es erklärt vieles. Vor allem macht es plausibel, wieso selbst kluge Menschen Stereotypen auf den Leim gehen. Es ist hypothesenökonomisch sinnvoll. Gerade kluge Menschen zeichnen sich ja dadurch aus, dass ihnen schnell gute — d.h. einfache und zutreffende — Hypothesen einfallen. Natürlich gebietet ihnen die selbe Klugheit, diesen Hypothesen zu misstrauen und sie, wo erfordert, zu überfeinern oder ganz fallen zu lassen. Dennoch erscheint das Stereotyp in dieser Sicht als sozusagen erste, kindliche Hypothese; als Auffassung, mit der sich ersteinmal arbeiten lässt. Aber auf das Stereotyp, weil es so einfach ist, können auch die Dummen kommen; und dann bleiben sie, im Gegensatz zu den Klugen, in dieser ersten Welterklärung einfach stecken.

So lautet das hypothesenökonomische Argument. Sein Reiz liegt darin, dass es das Stereotyp zu einer durchaus rationalen, einer inneren Logik gehorchenden Bewältigungsstrategie erklärt. Darin gleicht es meiner Deutung des Stereotyps als Sozialisationshandlung. Hier gehorcht es der Hypothesenökonomie, dort willfährt es dem Drang nach Zugehörigkeit.

Dennoch will ich gern drei Argumente gegen die hypothesenökonomischen Sicht vorbringen. Erstens bleibt das Rätsel der Einheitlichkeit des Sterotyps wieder einmal ungelöst. Das bleibt mein wichtigster Einwand. Wieso sollten alle Menschen die selbe Hypothese bilden? Man darf ja doch annehmen, dass ihnen ganz unterschiedliche Daten vorliegen. Es ist nicht ersichtlich, wie diese unterschiedlichen Datenpunkte alle zu der selben Hypothese führen; es müssten vielmehr eine Menge verschiedener Stereotype im Umlauf sein und miteinander konkurrieren. Tatsache aber ist, dass die Rassisten sehr homogenes Zeug daher reden. Das Stereotyp würde nicht Stereotyp genannt, wenn es nicht so wäre.

Zweitens ist fraglich, ob ein Stereotyp tatsächlich der Maßgabe hypothesenökonmischer Effizienz genügt. Der Ansatz geht davon aus, dass — der kleinen Anzahl an Datenpunkten zum Trotz — überhaupt ein Anlass zur Hypothesenbildung vorliegt. Wieso eigentlich? Müsste nicht die Kleinheit einer Stichprobe bewirken, dass sehr kleine Hypothesen gebildet werden? Oder gleich gar keine? Zumindest, wenn die Erlebnisse nicht einschneidend empfunden werden, sollte der hypothesenökonomische Ansatz eigentlich dazu führen, dass (fast) gar keine Hypothese gebildet wird. Es muss, meine ich, ein Zwang existieren, der unser Hirn überhaupt veranlasst, die paar unerhebliche Begebenheiten mit Juden, Türken etc. als Anlass einer Hypothesenbildung anzusehen. Es wird Sie, werter Leser, gewiss nicht überraschen, dass mein Vorschlag lautet, der Zwang zur, bzw. der Drang nach Sozialisation sei dieser Anlass.

Das gilt auch im Fall einschneidender Erlebnisse. Ich illustriere das kurz mit einem Beispiel. Sagen wir, es stößt Ihnen zu, dass Sie von einer Russengang ausgeraubt werden. Oder ihrem Freund. Sowas in der Art. Einschneidendes Erlebnis. Sonst aber haben Sie wenig Berührung mit Russen; oder vielleicht sogar eine positive Erfahrung aus der Kindheit, als ein netter russischer Mitschüler mit ihnen die Klassenbank drückte. Liegt nun, wie behauptet, der Fall vor, dass unser Hirn eine einfache Hypothese über Russen bilden müsste?

Wie weit reicht die Wirkung?

Sie verstehen das Problem. Mein Zweifel richtet sich auf das Ausmaß der hypothesen-veranlassenden Wirkung solcher Erfahrungen. Unser Hirn sollte, der Logik des Arguments selbst folgend, nur dort Verallgemeinerungen und Hypothesen verfertigen, wo ein hinreichender Anlass vorliegt. Hypothesenökonomisch wäre die einfachste Hypothese, die diesen Datenpunkt fittet, dass man eben das Russenviertel fortan meiden sollte. Möglicherweise generalisiert man das noch zu der Hypothese, dass sich überhaupt anrät, um russische Wohnheime, Nachbarschaften etc. einen Bogen zu machen. Aber die Hypothese, dass der Russe, zumindest sobald er ins Ausland geht, Schläger oder Säufer oder Krimineller sei?

Ich meine, die Bildung solcher Hypothesen ist nicht mehr ökonomisch sinnvoll; sie ist größer als nötig. Es müssen zusätzliche Anreize vorliegen, die Hypothese zu einem Stereotyp aufzublasen. Ich schlage vor, es ist Sozialisation. Der Drang, die Menschen in verschiedene Rudel einzuteilen (und selbst einem anzugehören) und also völkische Einteilungen vorzunehmen etc., das ist der Affekt, der unsere Thesenbildung veranlasst und die Größe der Hypothesen bestimmt.

Drittens schließlich spricht auch gegen die Hypothesenökonomie, dass die Hinzunahme weiterer Datenpunkte/Erfahrungen in der Regel nicht dazu führt, dass ein Stereotyp revidiert oder angepasst wird. Das ist kein direktes Argument gegen Hypothesenökonomie als Grund für die Herausbildung von Stereotypen, aber es ist ein Argument dagegen, dass unser Hirn hauptsächlich durch thesenökonomische Gesichtspunkte gelenkt würde. Wie eingangs angedeutet ist ja der normale Stereotyp-Anhänger sehr viel eher bereit, Erfahrungen, die dem Stereotyp widersprechen, als Ausnahmen von der Regel anzusehen, als die Regel selbst in Frage zu stellen. Der nette Dönermann ist eben die Ausnahme vom ansonsten üblen Türken. Man könnte auf den Einfall kommen, auch dieses Beharren auf dem Stereotyp als eine Art der Ökonomie anzusehen; einer Ökonomie der Art, dass man so lange an einer Hypothese festhalten sollte, bis sie nun gar nicht mehr geht. Das Problem mit dieser „Ökonomie“ ist jedoch, dass es eigentlich so gut wie immer „gar nicht mehr geht“. Das Ausmaß des Nichtzusammengehens von Erfahrung und Stereotyp ist oft unfassbar riesig; trotzdem hält der Rassist am Stereotyp fest. — Dreimal dürfen Sie raten: Jawoll, Sozialisationsgründe.

Daraus leitet sich, nebenher bemerkt, ab, warum die Strategie, man müsse den Rassisten nur persönliche Erfahrungen mit der inkriminierten Gruppe machen lassen, um ihn zu widerlegen und zu überzeugen — warum diese Strategie oft fehlschlägt. Den Rassisten kostet das Aufgeben seines Stereotyps sehr viel mehr als nur die Preisgabe einer falsche Hypothese. Es kostet ihn ein Gutteil seiner Selbstzuschreibungen und seiner Identität.

Soweit meine Kritik daran, Stereotype rein thesenökonomisch zu rechtfertigen. Sie klingt harscher als sie ist. Denn es geht durchaus, dass mehrere Ansichten des Sterotyps nebeneinander existieren, bzw. einander ergänzen. Ich will gar nicht sagen, dass nicht auch thesenökonomische Mechanismen am Werk seien. Die thesenökonomische Herleitung, dass nicht zwangsläufig dumm sei, wer ein Stereotyp verfertigt, aber begründbar dumm, wer daran festhält, diesen Gedanken finde ich sogar ziemlich lustig.

Erhardths Kritik sehe ich also, auch wenn sie aus der Wahrnehmungsecke kommt, als willkommene Weiterung an. Gewiss, das Stereotyp ist eine Form des Vorurteils, und Vorurteile sind einmal der notwendig vorbereitende und steuernde Teil jeder rationalen Handlung (statt Vorurteil kann man auch Hypothese sagen). Stereotypen unterscheiden sich lediglich dadurch vor anderen Vorurteilen, dass sie (1) typisch, d.h. einheitlich und (2) ungemein revisionsbeständig sind. Besonders für die Einheitlichkeit (und ein bisschen auch für die Revisionsbeständigkeit) gibt meine Theorie von der Sozialisationshandlung Gründe. Das ändert selbstredend nichts daran, dass Stereotype Vorurteile und Vorurteile denk- und handlungsnotwendig sind.

Handeln vs. Wahrnehmen

Der folgende Abschnitt ist teilweise schon im Aufsatz enthalten und dient der Begradigung des Irrtums, der sich — von mir ganz unbeabsichtigt — manchem Essay-Leser aufzudrängen scheint: Dass nämlich ich, indem ich das Stereotypverfertigen und -verbreiten als kollektive Handlungsfigur gegen die Aufassung einer privaten Wahrnehmungsfigur setze, scheinbar Handeln und Denken als ein Gegensaztpaar behandelte. — Nichts läge mir ferner. Ich versuche die Aufeinanderbezogenheit beider Sphären herzustellen, indem ich einen Mechanismus des Hin & Her zwischen beiden skizziere. Dem liegt, das gebe ich gern zu, eine gewisse Überhöhung des mechanistischen Verständnisses überhaupt zugrunde. „Verstehen“ heißt (in meinem, äh, Verständnis) zu großen Teilen, einen Mechanismus angeben zu können.i

Nun beabsichtige ich gar nicht auszuführen, weshalb ich Mechanismen als wichtigste Form des Verstehens überhaupt ansehe. Dazu an anderer Stelle. Hier geht es um eine kleinere, fast schon beiläufige philosophische Grundlegung. Gerade ihrer Einfachheit wegen, vermute ich, wird sie gern außer Acht gelassen. Es geht ganz simpel darum, den Zusammenhang zwischen Fühlen, Denken und Handeln nicht zu vergessen.ii

Wir kennen im Wesentlichen diese 3 Arten, der Welt zu begegnen: Fühlend, Denkend und Handelnd. Aus Gründen, über die ich spekulieren könnte, aber nicht spekulieren will, neigen wir dazu, Unterschiede der Glaubwürdigkeit oder andere Rangunterschiede zwischen diesen Begegnungsarten zu machen. Manche überhöhen das Denken, andere das Fühlen und wieder andere das Handeln. Nun ist jede Behauptung eines privilegierten Zugangs zur Wirklichkeit ganz gewiss eine metaphysische Übertreibung. Jeder der drei Wirklichkeitszugänge, soll das heissen, ist auf eigene Weise trügerisch und unvollkommen. Es gibt keinen auf diesen Kategorien sich gründenden Lebensstil, der vor allen anderen sich auszeichnete. Man darf den Vorrang des Denkens und des philosophischen Lebenswandels vor anderen Wirklichkeitszugängen genauso bezweifeln, wie den eines Lebens als Kunstwerk oder den des Erfolgsmenschens. All diese Rangmachereien entspringen dem Rechtfertigungswillen für einen bestimmten — ganz subjektiv bevorzugten — Lebensstil und sind ansonsten wenig überzeugend.

Es gibt kein Denken ohne Fühlen

Es gibt einmal kein Denken ohne begleitendes Fühlen; kein Handeln, ohne handlungssteuernde Gedanken; kein Fühlen, dem nicht ein reflektierendes Denken zur Seite gestellt wäre etc. Alle drei Begegnungsarten mit der Wirklichkeit, soll das beweisen, sind in steter wechselseitiger Begleitung begriffen.

Der Grund ist einfach. Es handelt sich um die Art, wie sich die Funktionsweise unseres Gehirnes von Innen, d.h. für uns, darstellt.

Kann sein, man weiß noch immer nicht, um Leibnizens berühmte Kritik an der Hirnforschung zu wiederholen, was im Gehirn genau einen Gedanken ausmacht. (Ich glaube im Übrigen, dass wir es bald wissen werden.) Aber soviel scheint sicher, dass die hirnphysiologischen Prozesse, die mit unseren Gedanken einhergehen, auch ein Art haben, sich anzufühlen. Eine Einsicht kann erhebend sein; eine Erinnerung peinigend; ein Zusammenhang kann trotzig oder wütend machen usw. — Gleichzeitig trägt sich zu, dass wir immerfort unsere Gefühle rationalisieren. Eine traurige Stimmung wird auf ihren Grund beforscht; eine Wut wird bewusst unterdrückt oder zu einem Kunstwerk sublimiert; eine Enttäuschung wird zu einer lehrreichen Episode umgedeutet und so fort. Immerzu stiftet das Fühlen Gedanken; immerfort wird das Denken vom Fühlen bewertet, belohnt oder bestraft — und immerfort deutet das alles in seinen Konsequenzen in die Sphäre des Handelns. Von dort wiederum kommen die Erfahrungen, mit denen sich Fühlen und Denken auseinander setzen müssen. Dorthin aber auch zielen, umgekehrt, die Resultate der Prozessierung unserer Erfahrungen im Gehirn.

Natürlich steht uns frei, Denken und Fühlen als Handlungen aufzufassen. Es kommt darauf an, was wir unter Handeln verstehen wollen. Es ist immerhin möglich, wenngleich nicht besonders fruchtbar oder erkenntnisträchtig, Denken und Fühlen als „inneres Handeln“ aufzufassen. Den Veränderungen, die unser Handeln an der Umwelt bewirkt, würden die Veränderungen unserer Gemütszustände oder unserer Gedanken entsprechen.iii

Solche Auffassungen, die den komplizierten Dreiklang von Denken, Fühlen und Handeln in einen einzelnen Ton überführen wollen, bei dem eine der Begegnungsarten Grundton und die andern beiden lediglich als Obertöne des Grundtones mitschwingen, solche Auffassungen, meine ich, führen wenig Klarheit herbei. Der Mensch ist zwar das Tier, bei dem die Trennung zwischen Fühlen, Denken und Handeln am weitesten fortgeschritten ist, aber das rechtfertigt weder, diese Sphären so zu handhaben, als könnten sie ohne einander statt haben, noch, eine von ihnen als die „eigentliche“ und die übrigen als lediglich andere „Geschmacksrichtungen“ der selben Sache darzustellen. Zusammenhang und Autonomie von Denken, Fühlen und Handeln bilden ein Spannungsverhältnis, das bei jeder Philosophie mitgedacht werden muss. Wo es vergessen wird, entsteht schlechte Philosophie; hört Philosophie auf und beginnt (im besten Falle) die Einzelwissenschaft.iv Im Grunde besteht eine der ewigen Aufgaben der Philosophie in nichts anderem, als diesen dreifachen Zusammenhang in immer wieder neuem Licht zu besprechen; Handlungstheorien, Erkenntnistheorien, Wahrheits- und Bedeutungstheorien — und Theorien über das Anfertigen von Stereotypen zu entwickeln.

Das ist, wie eingangs bedeutet, der übegeordnete Gesichtspunkt des Essays. Keinesfalls also setze ich die Sphäre des Handelns gegen die Sphäre des Denkens oder die des Fühlens. Stereotype, das wiederhole ich gern, sind auch Wahrnehmungsfiguren. Sie als Handlungsmuster zu begreifen soll vor allem einen Gesichtspunkt vorschlagen, unter dem die Sache endlich fasslich wird. Fasslich in dem Sinn, dass er Möglichkeiten der Intervention zeigt. Fasslich auch in dem Sinne, dass er der empirischen Überprüfung zugänglicher wird. Fasslicher letztlich auch dadurch, bilde ich mir ein, dass es den Weg zum Begreifen dessen, was ein Stereotyp ist, erleichtert. Es ist, wenn man will, ein didaktischer Zugang.

Sozialisationshandlungen und Philosophie

Der ganze Aufsatz, ersieht man, ist eine Ausführung der allgemeineren Maßgabe, Zusammenhang und Autonomie von Fühlen, Denken und Handeln in Rechnung zu halten. Insonderheit führt er an, dass Sprachakte immer auch Sozialisationshandlungen sind.

Diese harmlos und eigentlich wenig originell wirkende Behauptung birgt jedoch einigen philosophischen Zunder. Zunächst erscheint sie nur als eine von vielen möglichen Auslegungen des von John Austin in die sprachphilosophische Diskussion eingebrachten Argumentes, demnach Sprache stets auch Handlung sei.v Nun meine ich jedoch, dass Sozialisationshandlungen eine Sonderstellung unter den möglichen Sprachhandlungen inne haben.

Was ist eigentlich eine Sozialisationshandlung? Ganz kursorisch: Sozialisationshandlungen sind all jene Handlungen, die wir verrichten, um überhaupt im Umgang miteinander zu bleiben. Es sind jene Handlungen, die den Grund bilden, auf dem Kommunikation gedeihen kann. Anders gesagt, Eröffnen von Kommunikationskanälen und deren Aufrechterhaltung.

Damit Menschen einander zuhören, müssen sie überhaupt gewillt sein, einander zuzuhören. Alle Handlungen, die geeignet sind, dieses Wohlwollen zu erzeugen, sind Sozialisationshandlungen. Es sind, wenn man will, Handlungen der Befriedung. Soziales Miteinander kann nur stattfinden, wo man sich zunächst auf eine Art des grundsätzlichen Friedens miteinander geeinigt hat. All das, was wir unternehmen, um diesen Frieden herbei zu führen, ist Sozialisationshandlung.

Wenn man einmal den Blick dafür geschärft hat, wird man vielleicht überrascht sein, welch überwältigend großer Teil unseres Tätigseins dazu gehört. Jedes „Wie geht’s?“ ist ein Friedensangebot. Jedes gemeinsame Essen, jede Unterdrückung von Ärger, jeder Handschlag, jedes Lächeln. Dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist, mag eine Binse sein, aber trotzdem ist seltsam ungeläufig, was wir alles ins Werk setzen, um es sein zu können. Es ist eine ganze Menge.

Und es macht, davon bin ich überzeugt, auch einen großen Teil unseres Sprachverhaltens aus. Natürlich weiß ich nicht, ob Sprache tatsächlich als Sozialisationsmittel in die Welt trat; denkbar ist es. Empirisch dürfte es schwierig, wenn nicht unmöglich sein, die Entwicklung der Sprache zu rekonstruieren. Aber das ist auch gar nicht notwendig, um zuzugeben, dass der Sprache und dem Sprechen stets dieses Element des Friedenstiftens beigemengt ist. Immerfort vermitteln wir einander, allein dadurch, dass wir reden, unterschwellige Zeichen des Wohlwollens und fordern sie ein.

Diese Eigenart des Sprechens, stets auch Sozialisationshandlung zu sein, ist, wie gesagt, etwas verschieden von dem, was Sprachphilosophen normalerweise als Aspekte eines Sprachaktes behandeln. Da geht es zumeist darum, dass ein Satz neben seinem propositionalen Gehalt (Sinn und Bedeutung) auch Stimmungen und „Performances“ transportieren kann, wobei „Performances“ die Rolle bzw. den Gestus des Sprachaktes meinen (Fragen, Befehlen, Wünschen etc.).

Von diesen Aspekten unterscheidet sich die Sozialisationshandlung auf zwei Weisen. Sie unterscheidet sich, weil sie im Grunde jedem Sprachakt beigemengt ist. Und sie unterscheidet sich, als sie nicht ohne Weiteres ersichtlich ist.

Sozialisation, die unsichtbare Hülle

Sie umgibt das Gesprochene wie eine unsichtbare Hülle. Wie eine Kapsel einen pharmazeutischen Wirkstoff umhüllt die Sozialisationshandlung das Mitgeteilte. Wie diese bringt sie eine Mitteilung an ihr Ziel. Und, ebenfalls wie diese wird sie als nebensächliches Beiwerk angesehen. Der Wirkstoff — die Information — scheint das Wesentliche. Man neigt dazu, die Kapsel — den Informations-kanal — zu übersehen. Es ist die natürliche Betriebsblindheit der Sprechenden. Jeder Pharmakonzern forscht womöglich intensiver nach verbesserten Methoden für die „drug delivery“ — die Verkapselung in unserem Bild — als an neuen Wirkstoffen; aber seine Kunden interessiert nur der Wirkstoff. Der Spezialist weiß, dass die Wirksamkeit eines Wirkstoffes vom Vermögen abhängt, ihn zur rechten Zeit und in der rechten Menge an den rechten Ort zu transportieren. Der Patient weiß von alledem oft sehr wenig. — Das Stereotyp erscheint in diesem Bild als eine Art Placebo, als purer Platzhalter für eine Sozialisationshandlung. Als Kapsel, die vorgibt, einen Wirkstoff zu enthalten. Reine Kommunikationshandlungen, von denen der Sprechende jedoch vermeint, sie wären normale Begriffe. Stereotype sind Kapseln ohne Wirkstoff. Aber ohne Wirkung?

Es ist an dieser Stelle, dass der Sozialisationhandlung philosophisch verheerende Wirkung zutage tritt. Die meisten Bedeutungstheorien erfahren erhebliche Einschränkung, wenn man einmal der Idee Glauben schenkt, dass Sprechen stets auch Sozialisationshandlung ist. Wenn die einfache Äußerung „Es regnet.“ nicht allein bedeutete, dass es regnet — wie soll man dann ermitteln, was der Satz überhaupt bedeutet? Natürlich bedeutet er auch, dass es regnet. Aber häufig genug ist seine eigentliche Mitteilung die eines Gesprächsangebotes, bzw. die unsichtbare Mitteilung der Bereitschaft, zuzuhören. Sozialisation eben.

Wo, an welcher Stelle wäre diese Bedeutung in dem Satz enthalten? Es scheint, an keiner. Und doch leuchtet unmittelbar ein, dass „Es regnet.“ in der Regel eine andere Bedeutung haben muss, als das Inkenntnissetzen des Gegenübers von der offensichtlichen Tatsache des Herabnässens. Wie könnte eine Bedeutungstheorie aussehen, die diese Bedeutung entschlüsselt?

Bevor ich dazu einen Vorschlag mache, räume ich noch einmal ein, dass es natürlich Situationen gibt, in denen es dem Sprecher tatsächlich um die Mitteilung des Wetters geht. Von diesen Situationen handle ich nicht. Es geht um die zahlreichen Situationen, in denen man um der Sozialisation willen miteinander redet. Das ist nicht allein Smalltalk („Weathertalk“ inbegriffen) und auch nicht allein Gossip, Tratsch und Nachrichten — es ist auch in Sprachsituationen enthalten, die man gemeinhin für reine Informationsvermittlung hält. Arbeitsbesprechungen etwa, oder wissenschaftliche Diskussionen. Selbst diese Formen der Kommunikation tragen einen gewaltigen Teil Sozialisationshandlung in sich. Sie formen das Arbeitskollektiv, die „scietific community“ etc.

— Politische Debatten sowieso. Politik lässt sich sogar als reine Sozialisationshandlung ansehen. Sie ist im Grunde nichts, als das Handwerk des Spießgesellengewinnens und Schuldigenmachens. „Bleib hier!“ und „Hau ab!“, „Wir!“ und „Die!“, mehr ist da selten. Selbst Sachdebatten werden in ihrer Sphäre zu nichts als einem Mittel des In—Group-Out-Group-Spiels. Wirklich! Sieht man es sich genauer an, dann handhabt die überwältigende Mehrheit der Politiker politischen Debatten doch lediglich als Vehikel, um Positionen zu besetzen, Aufmerksamkeit zu erlangen, den politischen Gegner zu erledigen etc. Die eigentliche Sachfrage verkommt vollends zur Geisel von Sozialisationshandlungen. Das bemerke ich an dieser Stelle weniger, um den politischen Betrieb zu diskreditieren. Es wirft nur eben die Frage auf, wie man denn einen Politiker, der aus Überzeugung ein Sachziel verfolgt von einem Politiker unterscheiden könne, der im Verfolg des selben Ziels eigentlich nur im politischen Betrieb punkten will?

Diese doch sehr wichtige Frage ist nur eine andere Formulierung des zugrunde liegenden philosophischen Problems nach der Bedeutung eines Satzes, der auch Sozialisationshandlung ist. Sie lässt erahnen, wie überaus zerstörerisch sich der Aspekt der Sozialisationshandlung eines Sprechaktes auf Theorien der Bedeutung auswirken wird.

Sehen wir auf diese Wirkung. Sie ist nicht unheikel. Sie schmälert die Arbeit einer Menge äußerst gescheiter Philosophen. Das halbe zwanzigste Jahrhundert, bei Frege angefangen, über Russel, Wittgenstein, Quine, Davidson — um nur einige aus der ersten Riege zu nennen — hat sich mit der Frage abgeplagt, was die Bedeutung eines Satzes sei. Und dennoch, aus Gründen, die nicht ganz erfindlich sind, ist ihnen gänzlich durch die Lappen gegangen, dass allem Sprechen dieser Aspekt der Sozialisation eignet.

Ich sprach schon davon, dass diese Denker, bei aller zugestandenen Genialität, Zusammenhang und Autonomie von Denken, Fühlen und Handeln nicht ausreichend in Rechnung hielten. Genauer war es das Zusammenhängen dieser Weltzugänge, das sie in ihrem philosophischen Eifer vergaßen (und folglich die Autonomie, mit der sie es übertrieben). Sie haben sich in ihrer Philosophie immer nur auf den propositionalen Teil eines Satzes bezogen, als schwebte er rein und isoliert im Reich der Bedeutungen. Seine Handlungsaspekte ließen sie zunächst ganz fort; dann haben sie ihn als einen unabhängigen, weiteren Aspekt des Sprechens behandelt, bzw. haben ihn als Erweiterung der eigentlichen Bedeutungstheorie an späterer Stelle hinzugefügt. Den unsichtbaren Sozialisationsaspekt, wiewohl sie sich seiner täglich selbst im Umgang mit Kollegen, in der Familie, im Alltag etc. hunderte Male bedienten — den haben sie in ihrer Philosophie gänzlich ignoriert.

Was bedeutet „Grüß Gott“?

Gut. Ich möchte diese Denker gar nicht kritisieren. Ich möchte lieber ausprobieren, in welche Richtung eine Bedeutungstheorie weisen müsste, die von sprachlichen Äußerungen auch den Aspekt der Sozialisierungshandlung in Rücksicht hält. Betrachten wir zunächst den offensichtlichen Fall von Äußerungen, die der Sozialisation dienen, d.h. Äußerungen, die bewusst und öffentlich als Sozialisationshandlungen ausgeführt werden. Das ist, wie gesagt, die Ausnahme von der Regel, aber gerade deswegen gut untersuchbar. Betrachten wir Grußformeln.

Im deutschen wäre das zum Beipiel „Guten Tag!“. Was bedeutet diese Äußerung? Nun, wenn man sie, einem Vorschlag von Donald Davidson in „Moods and Performances“vi folgend, zu zwei Aussagen entfalten würde: „Ich äußere einen Wunsch, dessen Inhalt im nächsten Satz angegeben wird. Es ist ein guter Tag.“, wäre die Bedeutung zumindest im Groben eine Aussage (die wahr oder falsch sein kann) und ein davor gesetzter Rollen- bzw. Gestus-Anzeiger („Mood-Setter“, der anzeigt, dass es sich bei der Aussage um einen Wunsch handelt), der ebenfalls wahr oder falsch sein kann. Die Bedeutung dieser Grußformel, mit anderen Worten, lässt sich, ohne das hier in aller Ausführlichkeit durchzuexerzieren, mit Hilfe herkömmlicher Bedeutungstheorien halbwegs erschließen (Bedeutung hier zu: Wissen, was der Fall ist, wenn der Satz wahr ist).

Erhöhen wir den Schwierigkeitsgrad. Bei Grußformeln wie „Grüß Gott!“ würden die herkömmlichen Methoden schon versagen. Tatsächlich ist die Bedeutung dieser Grußformel für einen Außerirdischen so gut wie nicht entzifferbar. Abgesehen von komplexen und stark kulturell gefärbten Konzepten wie „Gott“ ist, selbst wenn die Bedeutung des Christengottes erläutert werden könnte, unklar, wie und zu welchem Behuf man ihn grüßen sollte und vor allem warum man einander ständig zur Ausrichtung dieses Grußes veranlasst (und es dann aber nie tut).

Dieses Beispiel legt eine andere Bedeutungstheorie näher (eine, die nebenher gesprochen, dem Pragmatismus nahe steht): Man muss, um die Bedeutung eines Satzes zu verstehen, die Funktion, das heißt die kausale Rolle, die er im Miteinander der Kommunizierenden spielt, kennen.

Wesen, die keine Grußformeln kennen (Computer, Außerirdische), werden weder Bedeutung noch Sinn von Grußhandlungen ohne Weiteres, d.h. durch reines Beobachten, verstehen können. Umgekehrt stellt es für einen Akteur, der die Funktion einer Grußhandlung kennt, überhaupt keine Schwierigkeit dar, wenn sie durch eine ansonsten ganz sinnlose Lautäußerung vollzogen wird (Quines „Gavagai“ zum Beipspielvii). In der Tat — und an den Zusammenhang des Stereotyp-Aufsatzes erinnernd — werden Grußformeln oft zum Schibboleth bestimmter In-Gruppen und wären außerhalb ihrer Bedeutung als Sozialisationshandlung kompletter Blödsinn (man übersetze „Jo, Digga!“ ohne Gebrauch kausaler Ersetzungen).

Soweit ist alles relativ einsichtig. Die Bedeutung einer Äußerung erschließt sich nicht allein aus ihrem propositionalen Gehalt, sondern auch aus der kausalen Rolle im kommunikativen Miteinander. Das macht man mit, das scheint keine große Sache. Wie aber ermittelt man diese kausale Rolle? Das ist der schwierige Punkt. Und es kommt hinzu, dass es natürlich mehrere kausale Rollen sein können, die eine Äußerung inne hat. Wie ermittelte man die alle?

Es ist durchaus keine Lappalie. Ich bin der Meinung, dass es keine universelle Methode gibt, die kausalen Rollen einer Äußerung erschöpfend und einwandfrei zu ermitteln. Und damit nicht genug. Vermutlich gibt es überhaupt keine abschließende, finite Beurteilung der Bedeutung einer Äußerung. Es ist ein Prozess des Erschließens. Die Bedeutung eines Satzes wird sich mitunter gar nicht unmittelbar mit dem Gesprochenen offenbaren, sondern erst allmählich und in dem Maß, in dem uns die kausalen Folgen einer Äußerung zugänglich werden. Es erfordert anhaltende Neugier und anhaltenden detektivischen Spürsinn.

Gewiss, Bedeutungsvielfalt wird nicht immer wichtig und vordergründig sein; aber sie hat doch häufiger statt, als man meinen möchte. Und es hat eben nichts mit semantischer Vielfalt zu tun oder mit Ironie oder performativen Brechungen einer Aussage etc., sondern ganz einfach mit dem Einanderdurchdringen der Kategorien. Damit, dass Sprache auch Handlung ist, Sozialisation bezweckt und so weiter.

Das räumt im Übrigen mit dem weit verbreiteten philosophischen Vorurteil auf, dass Sprache, weil sie in der Sphäre der Symbole und Bedeutungen stattfindet, auch schon eine epistemische Sonderstellung inne hätte. Falsch. Im Grunde ist es die Verneinung des schönen Humboldtschen Diktums von der Sprache als „Medium des Denkens und der Weltauffassung schlechthin“. Die Übertreibung Humboldts liegt in der unscheinbaren Bestimmung „schlechthin“. Weder gibt es ein schlechthinniges „Medium des Denkens“, noch eines der Bedeutung. Gewiss ist in Gedanken und ihren sprachlichen Äußerungen mehr von dem enthalten, was wir „Bedeutung“ nennen, als z.B. in einem Wasserhahn, aber es gibt eben keine schlechthinnige und auch keine reine Bedeutung. Es gibt nichts, das nicht neben seiner Eigenschaft, etwas zu bedeuten, auch noch etwas anderes wäre. Sozialisationshandlung, Laut, Feueraktivität neuronaler Netze und so fort. Bedeutung gibt es nicht als absolutes, von allem andern lösbares Ding. Bedeutung ist immer nur Zuweisung unbedeutender Gegenstände in einen Zusammenhang.viii

Sprache, Äußerungen, das „Medium des Denkens und der Weltauffassung“ — all das bleibt also letztlich genauso rätselhaft, wie gewöhnliche Gegenstände auch; man muss eine Äußerung, um sie zu verstehen, tätig und neugierig ausforschen. Eine sprachliche Äußerung gibt uns nichts anderes auf, als jedes andere Rätsel der Welt, weder im Stoff, noch in der Methode. Natürlich haben sprachliche Äußerungen ihre Eigenheiten und erheischen geeignete Verfahren zu ihrer Auslegung. Aber ein algorithmisches Verfahren oder ein Regelwerk, mit dessen Hilfe ihre Bedeutung zuverlässig und vollständig erschließbar wäre, kann es genauso wenig geben, wie überhaupt eine einheitliche wissenschaftliche Methode zur Erforschung der Welt. Man kann — und sollte — sich lediglich darauf verpflichten, bei der Erforschung Werte wie Überprüfbarkeit, Thesenminimalismus, logische Konsistenz etc. zu beherzigen, um die Bedeutungen, die man findet, einsichtig und fruchtbar zu gestalten. (Ja, ich habe logische Konsistenz einen Wert genannt.)

Folgt nun Beliebigkeit?

Folgt daraus das philosophische Harmageddon, dass die Bedeutung von Äußerungen beliebig sei? Könnte nun jeder Satz bei hinreichender Beforschung alles mögliche bedeuten? Ich meine, es besteht kein Grund zur Verzweiflung. Auch wenn man sich plötzlich mit der unangenehmen Aufforderung konfrontiert sieht, die kausalen Rollen einer Äußerung zu untersuchen, gibt es Einschränkungen. Der Satz „Es regnet.“ kann nun nicht plötzlich „Der Walfisch trieb nur Schabernack.“ bedeuten. Das leuchtet jedem ein. — Die Bedeutungserweiterungen eines Sprachaktes, die sich durch Inrücksichtnahme seines Sozialisationsaspektes ergeben können, müssen offensichtlich entlang der Bedeutungsachse „Bleib hier!“ —— „Hau ab!“ ausgerichtet sein. Das schränkt das Ausmaß des Dilemmas ein. Wir müssen, zumindest, um den Gehalt an Sozialisationshandlung zu bestimmen, eine Äußerung lediglich hinsichtlich ihrer sozialisierenden Wirkung untersuchen.

Wiewohl hier noch viel zu tun ist, nein, gerade deswegen, will ich es dabei bewenden lassen. Wenn ich es weiter führte, müsste ich die Bedeutungstheorie von Sprachakten in einen grösseren Bezugsrahmen setzen. Eine ungefähre Idee dieses Bezugsrahmens habe ich bereits ausgesonnen. Ich nenne es „Reputationsökonomie“. Wird wohl der nächste Aufsatz werden. Vielleicht sogar etwas wie ein philosophisches Bekenntnis. Eine Begriffslegung meines Unwohlseins und Wohlseins in dieser Welt. Mal sehen.

Komme ich an den Schluss dieser Anmerkungen. Ein letztes noch. Es sollte klar sein, auch wenn ich vermieden habe, explizit darauf hinzuweisen, dass natürlich auch große Teile des philosophischen Handelns Sozialisation sind. Und damit meine ich gar nicht den politischen Teil des akademischen Betriebs (wer mit wem, welche Stellen werden wo frei usw.). Damit meine ich auch weniger, dass Philosophen, wie alle Menschen immerfort Partei ergreifen; sich zu dieser oder jener Schule und Denktradition bekennen; die Argumente „ihrer Leute“ verteidigen oder weiter entwickeln etc. Damit meine ich vor allem die einfache Tatsache, dass Philosophen stets auch aus einem Sozialisationsbedürfnis heraus philosophieren. Sie wollen gelesen, bedacht, gelobt und kritisiert werden. Deshalb hat Philosophie die Gestalt einer vielstimmigen, mäandrierenden, großen, durch die Jahrtausende gehenden, ewigen Debatte.

Ähm. Kritik, anyone?

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i Ein Mechanismus ist sowas wie eine lücken- und bruchlose kausale Folge. Kausalität wiederum ist die Behauptung eines Mechanismus. Man sieht, die Sache dreht sich im Kreis; aber nicht jedes zirkuläre Argument ist deswegen wertlos.

ii Es ist nicht ganz leicht, diese drei Zugänge zur Wirklichkeit zu definieren und sauber voneinander zu trennen. Das allein sollte schon als Hinweis auf ihren engen Zusammenhang gelten. Während Handeln als bewusst ingang gesetzte Bewegung verstanden werden kann und Denken als eine Art innerer Dialog über Gott und die Welt, ist die Definition des Fühlens weniger klar. Erschwerend kommt hinzu, dass ich das Fühlen auch etwas anders ansiedle, als die meisten Autoren; als Zwischending nämlich zwischen Empfinden (Sinnesdaten) und Fühlen (Gemütslagen). Es scheint mir nötig, weil ich meine, dass das Fühlen die Qualität ist, mit der uns Bewusstseinsinhalte gegeben sind. Je nach Art und Komplexität des Bewusstseinsinhaltes kann auch das damit einhergehende Gefühl von reinen Sinnesdaten (primitive Bewusstseinsinhalte) zu sehr verworrenen und widerspruchsvollen Gemütslagen reichen.

iii Auch die anderen beiden Richtungen gehen, wenngleich sie noch weniger plausibel sind. Natürlich können wir Handeln und Denken auch als Aspekte des Fühlens begreifen. Das Hochreißen eines Armes wäre dann der letzte, materielle Teil eines Gefühls; lassen wir dahingestellt, ob eines Abwehrgefühls oder der Begeisterung für den Kaiser oder Adolf Hitler. Schließlich ist auch möglich, Handeln und Fühlen als Erscheinungsarten des Denkens zu verstehen. Ersetzte man „Denken“ durch „Geist“, wird deutlich, dass diese Auffassung gar nicht so selten ist. Letztlich aber geht es mir nur darum, dass die Unterscheidung Fühlen, Denken, Handeln weder übertrieben noch negiert werden soll, sondern dass sie in einem Spannungsverhältnis von Zusammenhang und Autonomie sich befinden.

iv Es wäre im Übrigen auch falsch, von einer Einheit der Wirklichkeitszugänge anstatt vom Spannungsverhältnis zwischen Zusammenhang und Autonomie zu sprechen. Weder ist gewiss, dass die Wirklichkeit ein Ding ist, noch dass sie sich ohne Rest und Lücken in Begriffe, Gefühle und Handlungsweisen zerlegen lässt.

v John L. Austin, How to do things with words, 1965

vi zB. enthalten in: Donald Davidson „Inquiries into Truth and Interpretation“, Oxford University Press, 2001, ISBN 9780199246298

vii Word and Object, 1960, Cambridge, Mass., ISBN 0–262–67001–1

viii Meist ist es ein kausaler Zusammenhang. Bedeutungschöpfen ist die Konstruktion einer kausalen Rolle. Deshalb meine Überschätzung des mechanistischen Verständnisses. Es ist, dies zugegeben, eine sehr grobe Annäherung an den Bedeutungsbegriff. Viele Zusammenhänge erscheinen in Wirklichkeit eher korrelativ als stark kausal. Ich bin jedoch überzeugt, dass unser Gehirn letztlich gezwungen ist, in Bedeutungen zu denken, das heißt, in kausalen Rollen; selbst, wenn wir auf einer Meta-Ebene informiert sind, dass lediglich eine Korrelation vorliegt. Aber das führt fort und soll nicht weiter ausgeführt sein.

 

Daniel Rapoport

Daniel H. Rapoport, geb. 1971, studierte Chemie an der TU Berlin und arbeitet seitdem als Wissenschaftler an Technologien zur Analyse und Vermehrung menschlicher und tierischer Zellen. Neben wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht D.H. Rapoport Essays und Glossen zu Politik, Philosophie und Kunst.

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