Grenzen und Verfall. Dystopie in Grau

Es steht schlecht um Europa. Die Fliehkräfte im Umfeld der Flüchtlingsdebatte könnten Europa zerreißen. Doch wir brauchen ein vereintes Europa. Wirtschaftlich, politisch, kulturell!


Im Cicero sang Philosoph Peter Sloterdijk vergangene Woche ein Loblied auf die Grenze. Er prognostizierte – beifällig – die Stärkung nationaler Staaten, auch die vorausschauende Verabschiedung von Kanzlerin Angela Merkel durfte natürlich nicht fehlen (über die herausragende geistige Leistung den rechten Kampfbegriff von der „Lügenpresse“ zum Lügenäther zu verbrämen, verlieren wir lieber nicht allzu viele Worte). Der Vorhang fällt, und nicht wenige scheinen mit Freude den womöglich letzten Klängen eines Stückes zu lauschen, dass wir „Europa“ nannten.

Der Vorhang zu und alle Fragen offen

Ja: Man darf theatralisch werden, während Staatsmänner und Frauen im Wartestand über Waffeneinsatz zur Grenzsicherung räsonieren und von einer Volksbühne im Entstehen, die das große internationale Theater verdrängen soll. Einer Volksbühne hinter Stacheldraht, natürlich. Man darf theatralisch werden, denn in Bälde steht der nächste große europäische Gipfel an, und auch dort wird vor allem eine große Tragödie gespielt werden. Deutschland wird auf eine europäische Lösung in der Flüchtlingspolitik drängen. Griechenland, Spanien, Italien und andere Staaten werden mit Verweisen auf das deutsche Agieren in der Wirtschaftskrise die Unterstützung verweigern. Oder mit Blick darauf, dass Deutschland bisher überproportional von Dublin III profitiert habe. Jeder findet seinen Grund. Auch die Sozialisten Frankreichs scheinen nicht geneigt der Regierung Merkel nachzugeben, zu groß ist hier die Angst Marine Le Pen und ihrem Front National weiter in die Hände zu spielen. Österreich hat schon seine „Obergrenze“ und unsere osteuropäischen Nachbarn, haben ohnehin schon längst deutlich gemacht, dass sie nicht das geringste Interesse verspüren, Kanzlerin Merkel entgegenzukommen.

Zugegeben, seit die Flüchtlingskrise so in den Fokus gerückt ist, ist es tatsächlich schwer, rechten Kräfte nicht in die Hände zu spielen. Wir erinnern uns: die Laienschauspieltruppe der Alternative für Deutschland war nach zahlreichen Selbstzerfleischungen und dem Austritt des wirtschaftsliberalen Flügels um Bernd Lucke vom politischen Parkett eigentlich schon wieder verschwunden. Dann kam das Thema Flüchtlinge, der dilettantische Umgang damit und der anhaltenden Höhenflug einer Partei die selbst Sloterdijk in zu engen Grenzen denken dürfte. Und seitdem gibt es kein Halten.

Rein deskriptiv könnte Sloterdijk am Ende Recht haben: Europa zerfällt in Nationalstaaten, im besseren Fall vielleicht in ein relativ freiheitliches Kerneuropa rund um Deutschland, Frankreich, Österreich plus Benelux, und eine zunehmend ungemütliche, umkämpfte, autoritäre Peripherie. Schlimmeres ist ebenfalls denkbar: Zum Beispiel wenn in Frankreich der Front National an die Macht kommt, der Euro zerbricht und deutsche Exportüberschüsse entsprechend erodieren. Wenn ein „Le Pen-Frankreich“ das Bündnis mit dem „Putin-Russland“ sucht und wer weiß welche Kaskadeneffekte sich dann noch aus alldem ergeben werden. Ja. Auch so kann es kommen. Immerhin. Klare nationale Identitäten innerhalb klarer Grenzen könnten sich dann wieder herausbilden. Wenn man das so aus dem Zeitgeist ablesen darf vielleicht tatsächlich ein allgemein-menschliches Bedürfnis.

Aber halt! Auch diese Identitäten fegen die Fliehkräfte eines europäischen Zerfalls möglicherweise rasch mit hinweg. Überhaupt: Identität die vor allem in der Abgrenzung von anderen gesucht wird ist fragil, unbestimmt und vom Anderen abhängig! Werfen wir doch noch einmal einen Blick auf das chaotische, manchmal anstrengende und relativ entgrenzte Europa, mit dem doch auch die meisten von uns aufgewachsen sein dürften. War (ist) das so ein schlechter Ort?

Europäische Identität existiert!

Da war etwa die Grenzen überschreitende Alltagserfahrungen zahlreicher nicht nur jüngerer Menschen in den letzten Jahrzehnten: Man wächst in Deutschland auf, studiert in England, verliebt sich in Frankreich und arbeitet vielleicht später in einem der skandinavischen Länder. Ein sympathisches Modell, das gerade in den 90er und 00er Jahren erst so richtig an Fahrt gewonnen hat. Doch vorher schon wurden Grenzen überschritten, die sich wohl kaum jemand zurück wünschen dürfte: Innerhalb einer Generation ersetzte zum Beispiel die Pflege der deutsch-französischen Freundschaft die Rede vom „Erbfeind“.

Da ist jedoch auch die langjährige nationale Tradition und deren kaum vorhandener transnationaler Widerpart. Oder? Eine gemeinsame europäische Tradition und Geistesgeschichte muss nicht erst geschaffen werden, sie existiert seit vielen hundert Jahren und ist eng mit der Geschichte der Aufklärung verwoben. In den 1820er-Jahren zogen demokratisch gesinnte Europäer aus, um für die Griechische Republik zu kämpfen, unter ihnen der noch heute in Griechenland ebenso wie in England verehrte Lord Byron. Im Spanischen Bürgerkrieg 1936-1939 kämpften Deutsche, Franzosen, Italiener, Briten, Spanier und andere gemeinsam und leider ohne Erfolg für die Freiheit in Europa. Und auch Geistesgrößen, die wir heute gewohnt sind als Aushängeschilder der Nationalkultur zu begreifen, definierten sich selbst gern als Europäer. Mann, Goethe, sogar Friedrich Nietzsche. Deutschland wie wir es heute verstehen ist dagegen gerade knapp 170 Jahre alt. Das demokratische Deutschland ist noch mal ein Jahrhundert jünger.

Unerwartete europäische Erfahrung

Doch so weit zurückgehen muss man ja gar nicht, um festzustellen, wie sehr die gemeinsame europäische Erfahrung noch dort, wo man sie gar nicht vermutet, Identität zu stiften vermag. In der DDR der Siebziger- und Achtzigerjahre zum Beispiel bewegten nicht nur die Blues-Messen die Jugend, sondern ebenso britische Rockmusik und französischer Existenzialismus. Heutige Jugendkultur ist erst recht international. Gefragte Musiker und Bands kommen aus Spanien ebenso wie vom Balkan. Und bei alledem ist keine gewaltsame Zerstörung gewachsener Identitäten zu konstatieren, wie es als Schreckgespenst an die Wand gemalt wurde, sondern eine Vermischung und Überlagerung von Identitätskonzepten innerhalb einer gemeinsamen europäischen Erfahrung. Europäische Identität beinhaltet vor allem eines: kulturelle Vielfalt.

Ich möchte hier des weiteren gar nicht über Gebühr die handfesten wirtschaftlichen Gründe in den Vordergrund rücken, warum es sich lohnt in Europa zusammenzustehen: Die wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen der Zukunft sind globale, mit China, Indien, Russland und den USA als bedeutende Machtblöcke. Ein Europa der Kleinstaaterei stünde auf verlorenem Posten. Und innereuropäisch trennt und hemmt der Nationalismus, die Standortkonkurrenz innerhalb der Euro-Zone droht zu einem „Race to the bottom“ zu verkommen. All das stimmt, aber anscheinend berührt es das Herz zu wenig. Auch die europäischen Institutionen scheinen das Herz nicht zu rühren. Denn: Die EU tritt in der Wahrnehmung ihren Bürgern als undemokratische Struktur gegenüber, in der die Kommission als deutlich mächtiger wahrgenommen wird als das Europaparlament. Ein seltsames Zweigestirn aus scheinbar erdrückender Übermacht und Handlungsunfähigkeit überlagert die großen Erfolge der europäischen Integration seit 1945.

Erfolge nicht unterschätzen!

Aber diese Erfolge sind in der alltäglichen Kultur, in unseren Umgang miteinander, gar nicht zu unterschätzen. Wahrscheinlich sind sich Philosophen wie Sloterdijk ebenso wie viele wütende und besorgte Bürger nicht einmal annähernd bewusst, was sie wirklich alles aufzugeben hätten, wenn das Rad der Zeit zurückgedreht wird und der Zerfallsprozess in Richtung europäischer Kleinstaaterei erst richtig in Gang kommt. Da wird dann wahrscheinlich kein „lockerer Bund“ (Sloterdijk) sich freundlich gesinnter Nationen entstehen. Nicht das Europa der siebziger oder achtziger Jahren, das sich in respektvoller, immer freundschaftlicherer Annäherung übte. Und auch in Deutschland nicht das behütete Wirtschaftswunderland der Blockkonfrontation, das sich eben auch deshalb formieren konnte, weil die Vereinigten Staaten von Amerika über ihre Grenzen zu blicken bereit waren und im fernen Europa Frieden und Demokratie „herbeibombten“ (auch so ein angeblich unmögliches Unterfangen, das eben durchaus realisierbar war solange man sich nicht vehement gegen Demokratisierung stellte).

In einem zerfallenden Staatenbund lebt es sich anders als in einem zusammenwachsenden. Unsicherer. Misstrauischer. Mit größerer Zurückhaltung gegenüber der Kultur der anderen. Dem Essen, der Musik, den Gebräuchen der Nachbarn. Wie lange genießt man im re-nationalisierten Europa wohl noch allerorten spanische Paella und französischen Wein? Hört Brell oder Sardou? Wann beginnt man seine Vorliebe für die fremdländische Romane vor den Hausgenossen zu verbergen? Sein Interesse an der Philosophie des klassischen (englisch/französischen) Liberalismus vorm Briefträger?

Paranoia? Kann durchaus sein. Aber sicher bin ich, dass mit dem Rückfall zu Nationalstaaterei keine gemütliche Schrebergartenidylle anbricht, sondern die Grenzen auch in den Köpfen wieder ausgeprägter werden.

Dagegen lohnt es sich weiter einzustehen. Und für das wilde, chaotische, aber für freien Austausch und freies Leben stehende grenzenlose Europa mit all seinen Schwächen.

An denen kann man ja arbeiten.

Als Europäer.

Hasso Mansfeld

Mit seinen Kampagnen Ostpakete für den Westen und Bio goes Lifestyle setzte Hasso Mansfeld gesellschaftliche Akzente. Er ist Diplom-Agraringenieur und fand durch seine Karriere in der Markenartikel-Industrie zur Publizistik. Viermal wurde er mit dem deutschen PR-Preis ausgezeichnet. Gemeinsam mit Christoph Giesa organisierte er die Facebookkampagne „Joachim Gauck als Bundespräsident“ und hat die liberale Ideenschmiede FDP Liberté im Netz initiiert. Mansfeld trat als Kandidat der FDP für die Europawahl an. Hasso Mansfeld arbeitet als selbstständiger Unternehmensberater und Kommunikationsexperte in Bingen am Rhein.

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