Krank durch Zucker?

Es soll Leute geben, die sich im Supermarkt überfordert fühlen und Einkaufen als eine Art Kampf gegen die Ernährungsindustrie sehen.


In der Süddeutschen Zeitung wird von Nöten jünger Mütter im täglichen Kampf gegen die Ernährungsindustrie berichtet. Speziell geht es um einen Schadstoff, den es offenbar zu vermeiden gilt: Zucker. Exemplarisch kommt eine Corinna Ludwig zu Wort. „Es gibt unheimlich viele Produkte für die Kleinen, zum Beispiel Säfte extra für Kinder, kleine Snacks, und in den meisten ist jede Menge Zucker drin“, sagt sie. Wir erfahren, dass sie viel Zeit damit verbringe, Angaben auf Verpackungen zu studieren. Offenbar ist die 30 jährige Münchnerin davon überzeugt, dass im Supermarkt viele Gefahren für ihr zweijähriges Kind lauern: „Zucker schadet den Zähnen und natürlich habe ich Angst, dass Kinder Diabetes bekommen oder übergewichtig werden.“

Muss sich Frau Ludwig wirklich so fürchten? Ich will versuchen, sie zu beruhigen. Zunächst zur Karies. Hier stellt sich die Sache sehr einfach dar: Während 1983 ein Zwölfjähriger in Deutschland noch durchschnittlich 6,8 kariesgeschädigte Zähne hatte, sind es heute nur noch 0,7. Wer einigermaßen regelmäßig seine Zähne putzt und nicht irgendwelche esoterischen Zahncremes ohne Fluorid verwendet, braucht sich heute wegen Karies keine großen Gedanken zu machen.

Diabetes-Epidemie?

Viel schlimmer natürlich Diabetes. Da muss man kurz erklären, worum es geht. Typ 1 Diabetes, der bei Kindern auftritt, ist eine erblich bedingte Autoimmunkrankheit, bei der der Körper die eigenen insulinbildenden Zellen zerstört. Diese Art der „Zuckerkrankheit“ hat mit dem Essen von Zucker schon einmal rein gar nichts zu tun. Typ 2 Diabetes, früher auch als „Altersdiabetes“ bezeichnet, hat eine andere Ursache: Hier bleiben die insulinbildenden Zellen intakt, der Körper reagiert aber nicht mehr so gut auf Insulin, deshalb steigt der Blutzuckerspiegel.

Typ 2 Diabetes wird tatsächlich in einigen Regionen der Welt in den letzten Jahrzehnten auch häufiger bei Jugendlichen diagnostiziert. Als Hauptrisikofaktor gilt Fettleibigkeit und hierzu kann natürlich auch starker Zuckerkonsum beitragen. Außerdem scheinen jedoch auch genetische Faktoren eine wichtige Rolle zu spielen. Mehr als 75% der Betroffenen haben einen nahen Verwandten, der ebenfalls Diabetiker ist. Besonders gefährdet sind Afroamerikaner, Indianer und Latinos. Nicht aber Frau Ludwigs Kind. Denn Frau Ludwig steht ja exemplarisch für die deutsche Durchschnittsmutter. Bemerkenswerterweise gibt es in Deutschland trotz der Zunahme von Übergewicht und Adipositas bei Jugendlichen keinen Anstieg. Die jährliche Erkrankungsrate liegt konstant niedrig bei etwa einer von 100.000 Jugendlichen pro Jahr. Betroffen sind fast ausschließlich stark übergewichtige Mädchen mit ebenfalls erkrankten Verwandten. Typ 2 Diabetes ist definitiv keine Krankheit, die man sich einfängt, wenn Mama beim Einkaufen nicht höllisch aufpasst.

Nationale Strategie

Natürlich nimmt sich die Regierung gern der schutzbedürftigen Mütter und Kinder an. Ein Werbeverbot von Süßigkeiten und Softdrinks in Kindergärten und Schulen sei beschlossene Sache, sagt Elvira Drobinski-Weiß, ernährungspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion. Echte Sorgen muss man sich allerdings natürlich nicht um die Familie der wacker um persönliche Übererfüllung der WHO-Vorgaben für gesunde Ernährung kämpfenden Frau Ludwig machen, sondern um jene einfachen, nicht zur bewussten Ernährung qualifizierten Menschen. Insbesondere Kinder aus bildungs- und einkommensschwachen Familien seien von Fehlernährung und Übergewicht betroffen. Ohne Studium ist man aus Sicht der Bundesregierung der Ernährungsindustrie mit ihrem „3 Milliarden Euro Marketingbudget“ hilflos ausgeliefert. Deshalb reicht die Verbraucheraufklärung nicht, es müsse zudem im Rahmen der nationale Strategie zur Reduktion von Zucker, Salz und Fetten in verarbeiteten Lebensmitteln daran gearbeitet werden, dass die Industrie den Zuckeranteil in ihren Produkten senke. Muss das wirklich sein? Vielleicht haben wir es bei den Menschen, die unbeschwert einkaufen und essen, was ihnen schmeckt, nicht mit mangelnder Bildung, sondern mit mangelnder Paranoia zu tun.

Frau Ludwig verliert im Kampf gegen die Süßwarenindustrie die Kraft. Sie muss vor der Übermacht kapitulieren, deshalb hofft sie auf Hilfe. „Tatsächlich fehlt einem aber oft die Kraft, im Supermarkt ständig auch noch das Essen auf den Zuckeranteil zu prüfen.“ So hört sich Gejammer von Leuten an, die staatliche Bemutterung als höchste gesellschaftliche Errungenschaft betrachten. Dabei würde ein kleiner Tipp von mir auch genügen, um exzessiven Zuckerkonsum zu vermeiden: Liebe Frau Ludwig, den meisten Produkten, die viel Zucker enthalten, sieht man es an. Es handelt sich um Süßigkeiten und Süßgetränke.

PS: Habe ich gesagt, dass es kein Problem ist, jeden Tag 5 Liter Limo zu trinken? Nein, habe ich nicht.

Thilo Spahl

Thilo Spahl ist Diplom-Psychologe und lebt in Berlin. Er ist freier Wissenschaftsautor, Mitgründer des Freiblickinstituts und Redakteur bei der Zeitschrift NovoArgumente.

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